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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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in die Wilhelmstraße. Wo, wenn nicht im Herzen der Moderne, soll ich mit der Suche beginnen?
    Die Straßen kommen mir nachts fast noch heller vor als am Tag. Überall leuchtet und flimmert es, wenn auch nicht so überwältigend bunt wie in meinen Kindheitserinnerungen. Aber die Stadt lebt. Sie hält sich. Und anders als in den Filmen von Monse feiert die Jugend die Nacht wie einen Fronturlaub vom Tag.
    Sie schlendern massenhaft durch die Straßen, verschwinden hinter Türen, trinken, johlen, lachen. An jeder Ecke gibt es um diese Zeit noch warmes Essen, als könnte die belagerte Hauptstadt nur in der Nacht ihre Bedürfnisse stillen. In hellen Fenstern drehen sich Fleischspieße, und die Hungernden schlingen ihre Rationen gleich auf der Straße hinunter. Fliegende Händler bieten Rosen und Feuerzeuge an, werden aber für den Schwarzhandel mit knapper Ware von der Mehrheit mit Gleichgültigkeit bestraft.
    Ein Zeitungsjunge rennt vor mir von Lokal zu Lokal. Er sieht schon etwas älter aus als die Zeitungsjungen früher, trägt einen fusseligen Bart und eine rote Kappe mit Schirm. Als er das zweite Mal meinen Weg kreuzt, halte ich ihn an.
    ND oder Junge Welt, fragt er, schaut mir nur kurz ins Gesicht, dann wieder die Straße auf und ab - wie auf der Flucht.
    ND?
    Das Neue Deutschland, Mann! Ich solle hinmachen, sonst sei die Konkurrenz vor ihm in der nächsten Kneipe!
    Neues Deutschland klingt gut. Für die Junge Welt bin ich wohl doch schon zu alt - aber dennoch gerührt: Wenn es die Reichszeitschrift der HJ immer noch gibt, habe ich mich einmal mehr in unserer Jugend getäuscht. Scheinbar organisieren sie nachts den Widerstand. Entsprechend eilig hat es der Mann mit der Kappe.
    Hier, sagt er schließlich und drückt mir von jeder Zeitung ein Exemplar in die Hand, das kaufe sowieso kein Schwein.
    Zwei Häuser weiter verschwindet er in einem Keller. Der Untergrund. Ich folge ihm, aber bis ich an der Treppe bin, kommt er schon wieder raus und hetzt weiter.
    Tabakrauch weht mir entgegen, außerdem Musik, die nur aus aberwitzig schnellen Paukenschlägen besteht. Langsam taste ich mich an einem Geländer hinab. Bunte Lichter flackern. Ein paar junge Leute lümmeln auf Sofas herum. Ich habe schon vollere Lokale gesehen, aber die hohen Hocker, von denen ich mir einen in der Nähe des Eingangs zurechtgerückt habe, sind großartig: Man kann darauf relativ bequem sitzen und muß sich dennoch keine Gedanken machen, wie man später wieder hochkommt. Mühsam dagegen gewöhnen sich Augen und Ohren an Dunkelheit und Lärm. Einige Gäste bewegen zwar ihre Münder, aber eine Unterhaltung ist praktisch unmöglich. Man kann es mit Spionageabwehr und Verdunklung auch übertreiben! Das Licht reicht gerade so zum Lesen.
    Die Zeitung mit dem konspirativen Kürzel ND nennt sich tatsächlich Neues Deutschland und versteht sich als Sozialistische Tageszeitung. Der Zusatz national fehlt, also stimmt es wohl, was auch die Redner auf der Saalversammlung beklagt haben: Alles Nationale sei verfemt. Dafür hat die Reichsschriftleitung nun doch die neue Rechtschreibung durchgesetzt. Es ist mir gleich beim ersten Artikel aufgefallen, der von einem Kongress statt einem Kongreß berichtet und Kommas setzt, wo er will - alles genau so, wie Anfang der 40er Jahre vom Reichserziehungsminister geplant. »Nicht kriegswichtig« hieß es damals noch, und wie haben wir in der Schule gejubelt, als die dummen Regeln verschoben wurden!

Jetzt haben wir also die »Majonäse« und kein scharfes ß mehr. Und immer schwerer fällt es mir, mich gegen den Gedanken zu wehren, der Krieg sei vielleicht doch schon ein paar Jahre vorbei. Was sonst soll es bedeuten, daß die Rechtschreibung wieder wichtig genug ist? Daß wir die Wörter unserer Feinde eindeutschen? Daß Kongresse statt Kriegsgerichte die Frage behandeln, ob Soldaten Mörder sind, wie es der Artikel nahelegt?
    Nur daran will und darf ich gar nicht weiter denken: Daß man uns nach dem Endsieg einfach vergessen haben könnte. Unmöglich.
    Zu dem Artikel drucken sie ein Foto, das ich auch schon in den Büchern von Monse mehrfach gesehen habe. Drei Kameraden der Wehrmacht sind darauf zu sehen, die eine standrechtliche Erschießung von Zivilisten vorzunehmen haben, vermutlich Partisanen. Von Vater weiß ich, daß solche Dinge keinem Soldaten leichtfallen, auch wenn die auf dem Foto ihre Hemmungen grinsend überspielen.
    Wer namentlich für die angeblichen Verbrechen der Wehrmacht angeklagt ist, läßt sich aus der

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