Die Nachhut
Seele trägt schwer daran wie 60 Pfund Marschgepäck. Warum soll ich mich auch beeilen? Will ich es wirklich noch genauer wissen?
Mehr als eine Stunde brauche ich bis zum Alexanderplatz, und angesichts der nagelneuen Hochbunker ringsum kann ich die trüben Gedanken sogar noch einmal beiseite wischen. Wie viel zu enge Balkone hat man um den ganzen Platz herum MG-Nester aufeinander gestapelt und die Schützenstellungen zum Teil mit Blumenkästen getarnt. In der Mitte ragt ein Turm in den Nachthimmel, von Flakscheinwerfern beleuchtet. Ganz oben glänzt eine silberne Kugel. Das muß Germania sein: Ein Speer aus Beton, erhaben und stolz. Bald schmerzt der Nacken vom Blick in die Höhe, und ich sinke müde auf eine Bank. Und ich fürchte, Liesbeth, ich kann nicht mehr.
Dass du einfach aufgelegt hattest, war trotzdem nicht fair, Benny. Ich hatte Gerd Busch schließlich nicht vom Sims gestoßen! Wo sollte ich außerdem hin mit seinem Auto und dieser verstockten Frau auf dem Rücksitz? Obendrein war es bestimmt 20 Jahre her, dass ich das letzte Mal hinter einem Steuer gesessen hatte.
Zum Glück waren nicht mehr viele Autos unterwegs, die vielen Demonstranten längst zu Hause. Am Brandenburger Tor sammelten Polizisten die letzten Sperren und Verkehrsschilder ein. Bei dir war die ganze Zeit besetzt. Wolf Jäger ging auch nicht ans Telefon, dabei hätte ich ihn wirklich gern für den schamlosen Umgang mit Elisabeth von Jagemann zur Rede gestellt. Ich war sicher, er kannte die Einzelheiten, so wie er über alle Details der letzten Tage informiert war. Doch die alte Dame, so schien es, war der einzige Mensch auf der Welt, der überhaupt noch mit mir reden wollte. Sie saß hinter mir, hielt mit einer Hand Buschs letzte Einkäufe fest und sah interessiert aus dem Fenster.
»Ist es das? Das Juden-Denkmal?«
Hinter einem beleuchteten Bauzaun wuchsen die Stelen in den bläulichen, nie ganz dunklen Berliner Nachthimmel. Ich nickte in den Rückspiegel und hätte in diesem Augenblick fast einen Penner überfahren, der ohne nach rechts und links zu sehen über die Straße eilte. Ich musste mich noch mehr auf den Verkehr konzentrieren. Und ganz sicher würde ich nicht mit ihr über das Mahnmal diskutieren, so pikiert, wie sie schon danach gefragt hatte! Aber offenbar wollte sie sowieso lieber nur selber reden.
»Mutter hat das Pack immer verachtet, die ganze Nazibande und ihre vulgäre Ideologie. Aber für Paps war es die Zukunft und - das klingt heute vielleicht komisch - auch ein bisschen Revolte gegen seinen eigenen Vater. Nichts hat Großvater mehr geärgert, als der Umgang seines einzigen Sohnes mit dem braunen Pöbel. Vater war einer der ersten Adligen der Bewegung. Und bei ihm war keine Berechnung dabei, wegen der Karriere oder weil sie ihm später das Parteiabzeichen vergoldet haben. Seine Begeisterung war ehrlich, er glühte dafür ...«
»Und Fritz?«
»Ach Fritz!« Im Spiegel sah ich ihren Blick durch den Tiergarten schweifen, während wir auf der Straße des 17. Juni Richtung Westen fuhren. »Fritz war doch noch ein Kind, fast noch mehr als wir Mädchen. Feinsinnig, kränklich und immer zu dünn. Ein kleiner Meister am Klavier, aber sonst das ganze Gegenteil von dem, was sich Vater immer von einem Jungen versprochen hatte.«
»Und wieso«, fragte ich, »hat sich Fritz nicht genauso gegen seinen Vater aufgelehnt? Wieso wollte er auch unbedingt zur SS?«
Nachdem, was sie über ihren Vater erzählt hatte, war das doch keine so abwegige Frage, oder Benny? Sie aber seufzte nur gequält und begann plötzlich ein Schlaflied zu summen.
»Kennen Sie das«, fragte sie dann, »morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Fritz hatte immer Angst, dass Gott eines morgens nicht mehr wollen könnte. Noch mit 16 traute er sich nachts nicht allein ins Bad, wenn Vater zu Hause war. Nicht, was man heute denken würde - nein: Da stand nur dieses Glas mit Borwasser und Vaters Auge darin. Ein Granatsplitter aus dem ersten Krieg. Und wenn man Pech hatte, glotzte es einen an. So war Fritz ... aber Entschuldigung: Was hatten sie eben gesagt? Es war, glaube ich, eine ziemlich dumme Frage.«
»Wenn Sie meinen!« Ich schluckte beleidigt.
»Damals hat man sich nicht aufgelehnt, verstehen Sie? Jeder hatte mit sich selbst zu tun, so ähnlich wie heute. Vielleicht lehnt sich überhaupt nur jede zweite Generation auf. Erst dann sind die alten Ideale nicht mehr ganz frisch und die ehemaligen Revoluzzer selbst alt genug. Oder was ist mit
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