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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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ängstlich zu uns aufsah und abwehrend die Hände hob.
    »Ich habe damit nichts zu tun«, sagte er, richtete sich mühsam auf und rannte die Treppe hinab, so schnell er konnte.
    Dass du ihm »Halt! Polizei!« hinterherriefst, beeindruckte ihn nicht und ehrlich gesagt klang das auch nicht sehr überzeugend. Auf dem Fußabtreter hatte er ein altes Schreibheft liegen gelassen und außerdem - uns stockte allen der Atem - eine Pistole. Liesbeth bückte sich, doch ich kam ihr zuvor und zögerte nur einen Moment, bevor ich ihr beides anstandslos aushändigte. Die Knarre wollte sie nicht. Aber über den letzten Eintrag von Fritz beugten wir uns gemeinsam. Er las sich wie ein Abschiedsbrief.
    Liebe Liesbeth, tapferes Mädchen! Vor ein paar Stunden noch habe ich wirklich gedacht, ich könnte dich noch einmal in die Arme schließen. Ich habe gehofft und gebetet und am Ende sogar an das Ende geglaubt, weil es sonst nicht mehr viel zu glauben gibt. Verstehen werde ich es ohnehin nie. In jeder Minute, die bleibt, will ich dir wenigstens alles schildern, als wärst du dabei gewesen - nicht nur in meinem Herzen. Denn da bist du für immer.
    Möglichweise bin ich auf der Bank unter der glänzenden Kugel sogar für einen verzeihlichen Moment eingeschlafen, als jemand meine Stiefel berührt. Es ist ein Dackel, der schnüffelt und gerade noch rechtzeitig von seinem Herrchen weggezerrt wird, denn sein Bein war schon oben. In Wahrheit, so kommt es mir gleich vor, suchen beide Kontakt, wenn auch auf unterschiedliche Weise.
    Ich richte mich schlaftrunken auf. Seinem Gesicht nach könnte der Fremde etwa mein Alter sein, und als er seinen kleinkrempigen Hut lüpft, vermisse ich auf einmal meine eigene Mütze.
    Ach, sagt er freundlich und zeigt auf die Zeitung neben mir, das gute alte ND: Was schreiben sie denn?
    Meinen Sie diese Zeitung, frage ich, das Neue Deutschland ?
    Unsere Zeitung, betont er und schaut mich prüfend an: Natürlich sei die Parteipresse auch nicht mehr, was sie einmal war. Dabei blinzelt er komisch, als wüßte ich schon.
    Es scheint ein Test zu sein. Wie ein Verschwörer klopft er mich ab, ob er offen reden kann, und genau diese Angst macht mir Angst: Sehe ich etwa aus wie ein ehrloser Verräter? Was soll die verdruckste Art? Wer so einen Turm baut - und genau so zurückhaltend formuliere ich es auch - muß sich nicht verstecken.
    Da nickt er beruhigt, lässt sich neben mir nieder, und beide starren wir eine Weile hinauf. Der Dackel legt seinen Kopf auf meine Stiefel, bis sein Herrchen unvermittelt mit der Faust auf die Bank haut und sagt, wir seien eben doch das bessere Deutschland gewesen. Da knurrt der Dackel und klingt fast genauso.
    Gewesen, frage ich vorsichtig. Wie meint er das? Glaube er etwa nicht mehr an die Zukunft unseres Volkes?
    Jedenfalls sei nicht alles schlecht gewesen, sagt er darauf. Und der traurige Trotz in seiner Stimme läßt mich schaudern.
    Unsere Blicke begegnen sich kurz, bevor er seine wieder über den Platz schweifen läßt und fragt, ob ich auch hier in der Nähe wohne, er habe mich nämlich noch nie gesehen.
    Gute Frage, denke ich und frage mich erstmals selbst: Wo ist eigentlich mein Zuhause? Konrad hat eins, Josef auch im weitesten Sinne. Für Otto mag es keine Rolle mehr spielen. Aber ich? Wo soll ich hin, wenn man mir morgen meine Papiere aushändigt?
    Ich fürchte, sage ich, meine Heimat gibt es nicht mehr.
    Er verstehe genau, was ich meine, antwortet er, und wir schweigen ein paar Minuten einträchtig nebeneinander her, bis er wieder zu klagen anhebt: Wer hätte auch gedacht, dass uns die Russen dermaßen in den Rücken fallen. Gorbatschow und Perestroika - so eine Schweinerei! Dazu spuckt er auf den Boden.
    Ich pflichte ihm bei, auch wenn mir die Namen der beiden Russen-Generäle nicht geläufig sind: Man hätte die zweite Front gar nicht erst eröffnen dürfen, sage ich, dann hätten wir auch den Westen auf lange Sicht in den Griff bekommen.
    Sicher, sagte er und nickt versonnen. Sei ja auch nicht alles Gold dort, wie man heute weiß. Da hätten wir wahrlich einen anderen Ansatz gehabt, Arbeit für alle, zum Beispiel, und diese Begeisterung der Jugend für eine gerechte Sache ...
    Der Fremde bestätigt genau meine Eindrücke: Vergreist und kraftlos habe ich die meisten Volksgenossen erlebt. Keine Vision mehr in den Gesichtern, lange Schlangen vor Arbeitsämtern, fast wie in der großen Krise Ende der 20er Jahre.
    Eine Stimmung wie nach dem Krieg, seufze ich.
    Wem sagen Sie das,

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