Die Nachhut
- eigentlich, wie er anfügt. Die anderen drücken sich eng hinter ihn und nicken beflissen, während ihr Anführer immer wieder Anlauf nimmt, mehrmals abbricht und stottert, er denke, er meine und glaube - bis es aus ihm herausplatzt: Mann, diese Knarren, die Runen und alles, also wirklich! Absolut krass, sagt er dann, endkrass!
Endsieg? Otto hält die Hand hinters Ohr, als habe er das letzte Wort auch nicht richtig verstanden. Bis auf solche Kleinigkeiten ist das Deutsch des Russen nicht mal schlecht. Nur was er sagen will, weiß er allem Anschein nach selber nicht. Schwer einzuschätzen, ob er sich nur vor seinen Saufkumpanen aufspielt oder uns für blöd verkauft. Denn für Zivilisten sind sie natürlich viel zu einheitlich gekleidet. Für deutsche Soldaten wiederum fehlt ihnen jede Manneszucht. Geradezu anmaßend oft mißbraucht er das Wort Kameraden, bis auch die anderen anfangen zu murmeln, scheele Blicke tauschen und die Situation gänzlich außer Kontrolle zu geraten droht.
Gerade noch rechtzeitig fährt Otto mit einem herzhaften Still gestanden! dazwischen und lässt sich von Stahl seine leere Pistole reichen. Das wirkt. Zu Füßen des Bettnässers breitet sich die Pfütze weiter aus. Selbst das Großmaul verharrt in Habachtstellung, zieht den Kopf ein und schweigt.
Den Gruß, flüstere ich Otto von hinten zu, er soll sie den deutschen Gruß machen lassen!
Kein echter Iwan würde sich erlauben, unserem Führer die gebührende Ehre zu erweisen, nicht bei dem politischen Drill ihrer Kommissare und vor den Augen der eigenen Leute. Otto kapiert es allerdings nicht sofort. Ich muß es zweimal wiederholen, jedesmal lauter, am Ende zu laut. Denn dann hebt ihr Anführer plötzlich von sich aus den Arm. Auch die anderen versuchen, etwas Spannung in die Hühnerbrüste zu pumpen und machen es ihm nach, zögerlich zwar, und jeder schaut unsicher nach dem Nachbarn, aber nach etwa einer Minute sind tatsächlich alle Arme oben.
Dabei feixen einige von ihnen schon wieder unangemessen. Und ich bin mir nicht sicher, ob man sich über solche Überläufer wirklich freuen oder eher für sie schämen soll.
Otto jedoch wirkt erleichtert und überlässt Konrad die weitere Befragung. Angeblich wissen sie alle, wo Seesen liegt, und überschlagen sich förmlich bei der Wegbeschreibung. Wenn wir ihnen glauben dürfen, sind es keine 20 Kilometer mehr. Einer bietet sogar seine Begleitung an, er sei dort ohnehin zu Hause. Und weil wir sie unmöglich alle in Arrest nehmen können, gehen wir kurzerhand darauf ein.
Der Junge heißt Jan und packt beherzt mit an, als wir Otto einladen. Dann fragt er, zu wem wir eigentlich genau wollen?
Zum Knieper-Hof. Hoppe. Die Kartoffelbauern. Wie ein Schnellfeuergewehr antwortet Konrad, bevor er zögert und fragt: Falls dort noch jemand mit diesem Namen lebt?
Oma Inge, sagt der Junge unsicher. Er glaube, Oma Inge habe mal so geheißen - und Uroma Gretel natürlich auch.
Konrad bekommt den Mund nicht zu und kein Wort mehr heraus.
Ich frage für ihn weiter: Deine Uroma Gretel?
Der Junge nickt. Oma Inge heiße zwar anders, nämlich so wie Opa Peter, aber Uroma Gretel sei immer Uroma Gretel geblieben. Und Hoppe, ja, so stünde es auch noch an ihrem Briefkasten.
Jedem von uns schwant in diesem Moment, daß der Junge nicht nur über zwei Ecken mit Konrad verwandt ist. Ich möchte sogar sagen: Wir alle spüren die Führung des Herrn. Als Jan schließlich auch noch erwähnt, er habe seinen Uropa leider nicht gekannt, weil der im Krieg geblieben sei, ist es endgültig vorbei mit der Selbstbeherrschung, das ganze Auto schnieft. Uroma Gretel, so fährt der Junge arglos fort, habe die Hoffnung allerdings nie aufgegeben. Seit er sie kenne, sei sie bei jedem Klingeln aufgesprungen und an die Tür gerannt. Bis zuletzt habe sie Herzklopfen bekommen, wenn nur der Briefträger auf den Hof geradelt kam. Mein Konny, habe sie dann stets geflüstert oder wenigstens eine Nachricht von ihm erwartet.
Bis zuletzt? Keiner von uns wagt die nächste Frage.
Josef klammert sich ans Lenkrad. Am Horizont leuchtet Heimatflak. Sie müssen dafür ein völlig neues System haben: Rasend schnell tasten Scheinwerfer den Himmel nach Feindbombern ab, ganze Bündel gleichzeitig. Der Junge nennt es Disko. Er sei dort auch jedes Wochenende und so, wie das klingt, scheint ihm der Flakdienst für die Heimat sehr am Herzen zu liegen. Konrad schluchzt erneut, sicher ist er stolz.
Für die letzten Kilometer schlägt Jan einen Umweg vor.
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