Die Nachhut
Glaskasten scheint allein. Er trägt eine Uniform im gleichen Blau wie das Licht. Konrad und ich sitzen ab. Aus ein paar mannshohen Kästen baumeln Schläuche. Es könnten Zapfhähne sein, Benzin. Doch wer soll hier mitten in der Walachei schon tanken? Für eine Feldtankstelle wiederum ist sie miserabel getarnt. Als wir uns der Glasscheibe nähern, öffnet sie sich wie von Geisterhand. Wir erschrecken, genauso der Mann in Blau. Aber erst sein hilfloser Blick aus einem Fenster verrät uns die eigentliche Gefahr:
Russen.
Mindestens zehn von ihnen tauchen gleichzeitig hinter einer Ecke auf. Ihre typisch kahl geschorenen Schädel schimmern bläulich. Wie gelähmt und doch auf alles gefaßt stehen wir ihnen gegenüber, bis einer unsicher zu lächeln beginnt. Noch ein Schritt näher, und - Konrad schreit sie plötzlich an:
Stoi! Ruki Wersch!
Natürlich: Das kleine Handbuch »Russisch im Feld«. Wir alle haben es einmal bekommen, aber nur Konrad hat es gelesen. Wie oft habe ich ihn wegen seiner Leimschnüffelei ermahnt? Er würde sich noch den letzten Rest Grütze aus dem Kopf ätzen und so weiter - vergeben und vergessen! Die Russen starren ihn ebenso respektvoll an wie ich. Nur ihre Hände heben sie nicht.
Sie tragen kurze, glänzende Jacken ohne Kragen, dazu hohe Schnürstiefel und blaue Baumwollhosen, bis unters Knie hinauf gekrempelt. Nie zuvor habe ich eine seltsamere Mischung von Uniformteilen gesehen. Auch ihre Bewaffnung paßt überhaupt nicht zu dem, was wir von Russen erwarten dürfen. Statt Maschinenpistolen haben zwei von ihnen lediglich eine Art Keule dabei, am Griff schlanker als an der Spitze. Wie schlecht muß es der Rotarmee gehen, daß sie ihre Soldaten inzwischen mit Holzknüppeln gegen uns schickt? Oder ist es nur Tarnung, ein mieser Hinterhalt? Im Zweifel dürfen wir keine Sekunde zögern.
Der Stämmigste von ihnen hält eine Flasche in der Hand und muß der Anführer sein. Er will gerade etwas sagen, da peitscht uns ein Schuß um die Ohren. Die Russen liegen schneller flach als wir. Eine Scheibe fällt splitternd in sich zusammen. Der Mann in Blau steht dahinter, den Telefonhörer noch am Ohr. Josef, dieser Hund, hat die alten Augen doch immer noch überall!
Konrad scheucht den Mann raus. Der traut sich nicht mal, sein Telefon aufzulegen, hält den Hörer noch in der Hand, als er längst neben den Russen im Dreck liegt, es ist ein Hörer ohne Schnur, ein Täuschungsmanöver. Wie eine Ewigkeit kommt es mir vor, bis Konrad wieder aus dem blauen Kasten kommt.
Er kaut und hat sich sogar die Taschen mit Fressalien vollgestopft. Kurz vor der Tür, die sich ohne Pause öffnet und schließt, seit ich sie bewache, bleibt Konrad nochmals stehen. Er greift in ein Regal und klemmt sich eine Zeitung unter den Arm. Offenbar gibt es an Feldtankstellen neuerdings allerlei Marketenderware. Und Konrad neigt zur Plünderei.
Während ich noch überlege, ob und wem ich diese Tendenz zu melden habe, rappeln sich die ersten Russen ohne Erlaubnis wieder auf. Ich lasse es ihnen durchgehen, denn sie zittern und wimmern, manche heulen sogar. Wie konnten solche Waschlappen nur so tief in unsere Heimat Vordringen?
Dawai, sjuda, Dawai! Konrad dirigiert den kläglichen Haufen zu unserem Wagen. Unter dem taghellen Dach wirken ihre Gesichter noch jünger als vorher. Lauter Milchbärte, die außer Pickel nichts Bedrohliches mehr an sich haben. Bei einem führen frische dunkle Streifen vom Schritt bis in die Stiefel.
Josef hilft Otto aus dem Wagen, da beginnt der dicke Anführer ungefragt zu lallen: Sie seien auch Deutsche, behauptet er, sogar stolz darauf und würden hier nur friedlich ihr Bier trinken. Als Konrad ihm auf Deutsch befiehlt, die Schnauze zu halten, pariert er prompt und wankt zurück ins Glied. Fast kommt er mir schwer betrunken vor.
Otto nimmt sich viel Zeit, um im Rollstuhl die erbärmliche Parade abzunehmen. Konrad reicht mir unterdessen das Heft aus dem Zeitungsregal. Auf dem Titelblatt sind Panzer und deutsche Soldaten abgebildet, einer schleudert gerade eine Handgranate. Landser , heißt die Zeitschrift - Der Landser. Und Kameraden schildern darin den gnadenlosen Kampf an der Ostfront. Na also - hat uns das kleine Flittchen im Bunker doch angelogen.
Wenn sie Deutsche sein wollen, fragt Otto und mustert die Gefangenen: Wieso seien sie dann nicht an der Front?
Der Russenhäuptling kratzt sich den Schädel, tritt von einem Bein aufs andere und gibt schließlich zu, daß dies wirklich eine gute Frage sei
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