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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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zu alt für so einen Kindervers. Aber Konrad zuliebe hätte er ja wenigstens mal Amen sagen können!
    Seine Oma Inge wirbt mit gütigen Augen um Verständnis: Jans Eltern seien leider nicht gläubig, ihren Andeutungen zufolge ist das wohl auch eine Folge der bolschewistischen Besatzung. Außer Jan gibt es noch eine Enkeltochter, die gestern Abend bereits im Bett lag und nun auch beim Frühstück fehlt. Inges Mann nimmt sie morgens mit in die Stadt zur Schule. Die Großeltern kümmern sich um alles, während die Eltern im Westen ums Überleben kämpfen. Dabei würde die Ostfront viel näher liegen, denke ich, und noch merkwürdiger kommt mir vor, daß sie angeblich jedes Wochenende Heimaturlaub bekommen.
    Hartz Vier nennt Inge die jüngste Totalmobilmachung, die angeblich jeder fürchten muß, der sich nicht freiwillig im Westen meldet, selbst Alte und Frauen. Harte Zeiten - aber Konrads Familie steht füreinander ein. Er darf stolz sein.
    Sogar Otto Böttcher beweist unerwartet Feingefühl, indem er erst nach dem Frühstück wieder in Befehlen spricht: Einen Tag würden wir bleiben, legt er fest, morgen gehe es ausgeruht weiter. Daraufhin schickt Konrad seine Familie aus dem Raum und eröffnet uns, daß er bleiben werde. Für ihn sei der Krieg vorbei. Sein Hof bräuchte ihn, die Familie auch. Und bevor Otto etwas entgegnen kann, sagt er, dies sei sein letztes Wort.
    Ich zähle die peinlich sauberen Kacheln unter dem Küchentisch und halte gemeinsam mit Josef die Luft an: Wir verstehen ihn ja. Trotzdem ist es allerhand, was er uns, seinem Vorgesetzten, letztlich der ganzen bedrohten Heimat damit zumutet. Man könnte das auch gut und gerne Fahnenflucht nennen.
    Otto starrt ihn lange und verächtlich an. Dann zitiert er fast beleidigt den Erlaß des Reichsführer SS zur Einrichtung von Sonderstandgerichten zur Bekämpfung von Auflösungserscheinungen vom 26. Februar 1945. Es ist sein Lieblingsbefehl, einer der letzten, die uns erreichten, und der einzige, den er auswendig kann. Zwei Minuten später wird die Stille so unerträglich, daß Josef fragt, ob er wegtreten dürfe. Ich schließe mich, Ottos stumme Erlaubnis vorausgesetzt, sofort an. Sollen sie das doch unter sich klären! Auch wenn es sein gutes Standrecht wäre, erschießen wird ihn Otto schon nicht gleich. Seit dem Zwischenfall an der Autobahn klappert die Munition seiner P 640 in meiner Manteltasche. Das hatte der Kleinen von der Wochenschau schon das Leben gerettet, die mir - nebenbei gesagt - trotz aller Aufregung nicht aus dem Kopf will.
    Später heißt es, Otto schläft. Und obwohl alle wissen, daß die Sache damit nicht erledigt ist, verbringen wir ein paar unbeschwerte Stunden auf dem Hof, beinahe friedlich.
    Konrad spannt das letzte Pferd an und will die Wiesen pflügen. Inge kann ihn nicht davon abhalten. Ihr Argument, ein brachliegender Acker würde mehr einbringen als ein bestellter, ist aber auch wirklich zu albern. Ich sitze mit Jan auf einer Bank und genieße die Frühjahrssonne. Josef hat sich nach einem kleinen Spaziergang in die Scheune zurückgezogen. Der Junge erklärt mir derweil den Lauf der Welt.
    Jedes Detail sauge ich auf und gebe es hier wieder, wenn auch vieles keinen Sinn ergibt. So spricht Jan viel von der Wende. Es muß sie also doch noch gegeben haben, wenn auch viel später als ersehnt. Jan verbindet allerdings nichts Positives damit: Seine Eltern hätten danach Lohn und Brot verloren. Er selbst fände nicht mal eine Lehrstelle. Deutsche Bauern ohne Arbeit - das muß man sich mal vorstellen!
    Auch deshalb kann es Jan wohl kaum erwarten, seinem Vaterland zu dienen, genau wie ich in seinem Alter. Es scheint ihm sogar in erster Linie mehr um eine Art Beschäftigung zu gehen als um die Ehre. Außerdem würden junge Männer heute erst wieder mit 18 Jahren genommen und, wie er klagt, nicht mal jeder. Wie soll man da glauben, daß wir angeblich den Balkan zurückerobert haben, daß deutsche Truppen in Afghanistan stehen, und es sogar wieder eine Kriegsmarine gibt von der doch fast nichts mehr übrig war? Wenn man den geographischen Kenntnissen des Jungen trauen kann, kontrolliert sie das arabische Horn. Ein neues Afrikacorps schickt sich gerade an, Rommels Ehre im Kongo wiederherzustellen. Es scheint, als hätte unsere Generalität aus den 40er Jahren nichts gelernt: Noch immer reiben wir uns an vielen Fronten gleichzeitig auf, während der Feind längst in der Heimat wütet.
    Jan versteht das auch nicht und schaut mich dennoch manchmal

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