Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
Vom Netzwerk:
Wir folgen seinem Rat, auch wenn wir nichts zu verbergen haben. Immerhin ist er der erste Mensch, dem wir blind vertrauen dürfen, nachdem ihm Konrad die Wahrheit offenbart hat. Kein deutscher Junge würde seinen Uropa verraten - da können die Verhältnisse noch so durcheinander sein. Der Knabe hat es beinahe emotionslos geschluckt und schweigt den Rest der Fahrt.
    Es ist fast elf, als wir durch ein offenes Tor fahren. Jan springt als Erster aus dem Wagen und hält Konrad die Tür auf. Der aber rührt sich lange nicht und starrt auf den schwach beleuchteten Hof. Wir erkennen einen Stall, das Wohnhaus, eine Pforte zum Garten. Vermutlich klebt Konrad die Zunge vor Rührung am Gaumen, und so erfahren wir nicht, ob noch alles beim Alten ist oder kaum etwas wiederzuerkennen. Ich habe es mir, ehrlich gesagt, auch nicht ganz so ärmlich vorgestellt.
    Hinter einem Fenster im Erdgeschoß brennt noch Licht. Jan schlägt vor, die Familie zunächst allein auf den späten Besuch vorzubereiten. Uroma Gretel sei bestimmt noch wach, weil sie immer schwer einschlafe. So beiläufig erfahren wir, was er die ganze Zeit verschwiegen oder nicht erwähnt hat: Konrads Frau lebt! Und der brave Bursche macht sich Sorgen um ihr Herz.
    Konrad braucht nur zwei Sekunden, um diese Nachricht zu verdauen. Dann ist auch er nicht mehr zu bremsen und holt seinen Urenkel trotz Hinkebein noch vor der Haustür ein, die sich im gleichen Augenblick öffnet.
    Warmes Licht fällt auf den Hof, als eine kleine Frau darin erscheint. Sie stützt sich mit einer Hand in den Rahmen, lächelt verlegen und empfängt ihren Mann mit einem flüchtigen Kuss, als sei er erst am Morgen aus dem Haus gegangen. Und genauso selbstverständlich geht es weiter: Niemand fällt in Ohnmacht, kein Wort zu viel. Ein jüngerer Mann, von dem wir erst am nächsten Tag erfahren, daß es Konrads Schwiegersohn ist, nimmt uns Mäntel und Waffen ab. Konrads Tochter Inge führt uns in die Küche und bereitet still ein Gästezimmer vor.
    Konrad steht die ganze Zeit mit Gretel im Flur, hält ihre Hand und beobachtet jede Bewegung seiner Tochter, die auch schon mindestens 60 Jahre alt sein muß. Gretel aber strahlt, als hätte sie ihrem Mann das reizende Mädel eben erst in den Arm gelegt. Ab und zu wird der frische Vater von Fassungslosigkeit geschüttelt und versteckt seinen Kopf im schneeweißen Haar seiner Frau. Später ziehen sich die beiden zurück, als wäre auch das nichts Besonderes. Für mich ist es immerhin die erste Nacht seit langem, in der ich einschlafe, noch bevor ich mein Dankgebet beendet habe.
    Jetzt, am Morgen danach, schwebt über allem noch immer die gleiche Wolke aus Rührung und Demut. Bis auf einen zurückhaltenden Morgengruß wird in großer Runde geschwiegen. Wir sitzen am Frühstückstisch und warten nur noch auf Konrad.
    Durch das Küchenfenster sieht man ihn auf einem kleinen Stück Rasen die Sense führen. Er hat es nicht verlernt. Wenn er sich nach jedem kraftvollen Schwung durch das hohe Gras vorwärts schaukelt, fällt sein steifes Bein kaum noch auf. Er ist überhaupt kaum wiederzuerkennen in seinem blauen Arbeitsanzug, der alten Schiebermütze aus Leder und den Gummistiefeln. Seine Tochter Inge hat auch uns zivile Anzüge von ihrem Mann angeboten. Ich hätte schon Lust gehabt nach so langer Zeit in Feldgrau. Aber Otto hat sofort protestiert und natürlich Recht: Warum sollen wir uns verkleiden?
    Konrad soll schon ihm Stall gestanden haben, als alles noch schlief. Nach dem Melken der einzigen und letzten Kuh auf dem Hof, so berichtet Gretel, habe er seine Äcker abschreiten wollen, aber mehr als drei Hektar Wiese seien leider auch nicht mehr übrig. Wenn ich sie richtig verstehe, haben Kommunisten alles Land kassiert und im Auftrag der Russen neu verteilt.
    Als Konrad endlich kommt, bleibt er in der Tür zu Küche stehen und streichelt selbstvergessen den Rahmen. Lange schaut er in die Runde und auf den liebevoll gedeckten Tisch. Dann winkt er Jan zu sich. Der Junge soll ein Tischgebet sprechen, aber er scheint nicht mal zu ahnen, was von ihm erwartet wird. Leicht widerstrebend läßt er sich von seinem Urgroßvater die Hände ineinander legen. Schließlich spricht Konrad für ihn:
    Händchen falten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler denken. Er gibt uns täglich Brot und hilft uns aus aller Not.
    Amen. Inge und ich antworten wie aus einem Mund. Sogar Otto, sonst gottlos bis ins Grab, murmelt mit. Der Junge dagegen grinst nur verlegen. Natürlich ist er schon

Weitere Kostenlose Bücher