Die Nachhut
Und wer weiß, was schon damals unter der Dusche hätte passieren können, wenn du nicht plötzlich irgendwas von einem Auftritt gestammelt hättest, dich offenbar für die Kopfhörer entschuldigen wolltest, dass du eigentlich DJ wärst und dir mit dem Opener des zweiten Sets noch nicht sicher ... wirres Zeug jedenfalls, aber auch zum Niederknien niedlich, deine Verlegenheit.
Das mit den richtigen Worten im richtigen Moment würdest du auch noch lernen, dachte ich und ließ dich ungeschoren gehen.
Kaum warst du raus und die Tür verriegelt, sank die Temperatur im Bad um gefühlte 30 Grad. Ich musste noch mal unter die heiße Dusche, aber es nutzte auch nichts mehr. Waren das schon die Vorboten der Hormonumstellung? Ein neuer Komplex in meiner Sammlung? Würde ich dich beim Frühstück wiedersehen?
Was du nicht wissen konntest und mir auch erst unter der Dusche eingefallen war: Es war wirklich mein Geburtstag, jedenfalls stand es so auf meiner Geburtsurkunde. Der 30. März lieferte mir damit gewissermaßen auch die amtliche Erklärung für meinen Traum. So wie es einen Biorhythmus gab, gab es bestimmt auch einen für Schicksal und Traumata. Die Urkunde war schuld, die geschwärzten Namen meiner Eltern, denn wenn sie keine Opfer waren, konnten sie nur Täter gewesen sein. Meine Mutter stellte ich mir seitdem als KZ-Aufseherin vor, Vater als eins von diesen Schweinen, die mit Häftlingen experimentiert hatten, von dem Kaliber mindestens. Wahrscheinlich waren sie kurz vor ihrer Enttarnung Hals über Kopf in den Westen oder gleich nach Südamerika geflohen. Ihre Angst vor gerechter Strafe war größer als die Sorge um ihr Kind, das sie auf der Flucht nicht gebrauchen konnten. So hatte sich die jugendliche Evelyn eine Unmenschlichkeit mit der anderen erklärt. So waren aus leiblichen Eltern Leibhaftige geworden. Nur so ließ sich das damals aushalten, vielleicht sogar bis heute.
Weil Frau Thorwart trotzdem immer fürchtete, meine Eltern könnten eines Tages vor der Tür stehen, kam ich mir bei ihr oft vor wie das ganze Land, in dem wir lebten: Umarmt und adoptiert von der großen, gütigen und allmächtigen Sowjetunion, aber auch immer am Gängelband und voller Misstrauen, wenn es um die eigenen Wurzeln oder um Selbstständigkeit ging.
Entsprechend ungern ließen mich die Thorwarts ziehen, als es mir gleich mit 18 darauf ankam. Seitdem sah ich sie kaum öfter als meine leiblichen Eltern. Sie waren alle nur noch virtuelle Verwandte, Komparsen meiner Albträume. Und der einzige Mensch, mit dem ich mich bis heute über solche Dinge unterhalten konnte, war Wolf.
Darauf musst du nicht eifersüchtig sein, Benny! Leidensgenossen brauchen das manchmal, weil es kein anderer versteht. Wolf nickte an den richtigen Stellen und sagte nichts Falsches an den falschen. Gott, wie ich diese Vertrautheit vermisste! Mehr als Sex, vielleicht sogar mehr als ihn selbst...
Das ungefähr war mein Leben, als ich an diesem Morgen unter der Dusche stand und du hereinplatztest. Und wer wartete beim Frühstück auf mich? Schiller. An meinem Geburtstag, in Gossow!
Wenigstens hast du überhaupt geschlafen und nicht die halbe Nacht gelesen wie ich auf meiner Luftmatratze. Gegen drei Uhr hatte ich mir die Kopfhörer geholt, weil Busch schnarchte wie ein Wildschwein. Um vier Uhr war Jenny genervt aufgestanden und hatte noch einen Bummelzug früher nach Berlin genommen als geplant. Die letzten Stunden in ihrem Bett brachten dann auch nichts mehr. Zu viel ging mir durch den Kopf, und dabei hatte ich dich ja noch nicht mal unter der Dusche gesehen.
Die Fernsehexperten hatten uns live bestätigt: Alle suchten den Bunker - und wir waren schon drin. Dazu die Tagebücher von Fritz. Meine Bilder auf allen Kanälen, morgen wahrscheinlich weltweit. Was für ein Scoop! Wir waren die Größten!
Busch hatte noch während der Sendung hektisch telefoniert und angeblich versucht, eine Kopie des Bauplans zu besorgen - nur zur Sicherheit, wie er sagte, ob es auch wirklich dasselbe Objekt war, über das der Professor gesprochen hatte. Ich musste bei Grimm ständig an die Märchenbrüder denken und war mir auch bei Busch ziemlich sicher: In Wirklichkeit hatte er sofort ein Zusatzhonorar für die Sensation ausgehandelt, nachdem nun feststand, dass es doch eine war.
»Sie haben keine heiße Spur«, sagte Busch nach einigen Telefonaten mit Kollegen und Informanten und das klang aus seinem Mund fast wie eine Entschuldigung für alle seine Zweifel.
Weil das Material
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