Die Nachhut
sondern nur meinen offenen Mund und weite Augen sahst. Und ganz sicher wollte ich nicht, dass du deshalb mit beiden Händen auch noch zuerst nach deinem Kopfhörer greifen und dabei dein Handtuch loslassen musstest.
Keine Ahnung, wann ich zuletzt einem nackten Mann gegenüberstand. Noch länger war nur her, dass mich meine toten Eltern im Schlaf heimgesucht hatten. Und einzeln hätte ich zwei emotionale Erdbeben dieser Art vielleicht sogar verkraftet.
Als ich zwischen 11 und 15 Jahre alt war, passierte das noch jede Nacht - dass nachts meine Eltern kamen, meine ich. Später sah ich sie nur noch ab und zu. Aber der Albtraum war immer noch der gleiche: Mutter und Vater standen vor meiner Schule, hinter ihnen eine amerikanische Limousine, so lang wie die halbe Pestalozzistraße. Geschenke für mich quollen nur so aus dem Kofferraum. Vater lächelte schüchtern. Mutter trug jedes Mal exakt das gleiche Kleid wie Shirley MacLaine in Irma La Douce und ging so tief in die Hocke, wie das ihr Petticoat erlaubte, während sie beide Arme nach mir ausstreckte.
Damit wir uns richtig verstehen: Ich habe mir diese Szene nie gewünscht. Es war - im Gegenteil - immer in Ordnung für mich, dass sie tot waren. Keine Eltern zu haben, ist eine verlässliche Sache, man kann sich dann ein Bild von ihnen machen, das nie enttäuscht wird. Und da ich nie wusste, wer meine Eltern waren, hatte ich immer ziemlich klare Vorstellungen, die allerdings wenig mit lächelnden Menschen vor einem Amischlitten zu tun hatten, sondern vielmehr mit Mord und Totschlag.
In meinem Traum drehte ich mich deshalb stets Hilfe suchend nach meinen Adoptiveltern um, die aber offenbar in die Überraschung eingeweiht waren und sich diskret im Hintergrund hielten. Von dieser herzlosen Kälte war ich an diesem Morgen wieder einmal aufgewacht und hatte mich unter der heißen Dusche gerade etwas auf gewärmt, als du dich ähnlich diskret von mir abwenden wolltest. Nur deine Augen gehorchten dir nicht.
Da musst du gar nicht rot werden: Was ich sah, bevor du dein Handtuch aufgehoben hast, und sich auch danach nur notdürftig verbergen ließ, war eher ein Kompliment. Kein Wort bekamst du heraus. Ich drehte das Wasser ab und trat aus der Dusche. Es war eng in dem kleinen Bad. Ich spürte die Tropfen auf meiner heißen Haut fast von allein verdampfen, angelte dennoch mein Handtuch von der Heizung und versuchte, mich so ungezwungen zu bewegen, wie das einer nackten Frau in meinem Alter eben möglich ist, wenn ihr ein makellos junger Kerl dabei zuschaut. Dass du, die Hand schon an der Tür, deine Augen trotzdem nicht von mir lassen konntest, war womöglich das schönste Geburtstagsgeschenk, seit mich meine Adoptiveltern mit genau vier Jahren aus dem Heim zu sich geholt hatten.
Es waren die frühen 60er Jahre, DDR, und ich hätte es sicher schlechter treffen können. Das vermittelte mir auch der alte Pfarrer Thorwart von Anfang an, und vielleicht war die Pflicht zu lebenslanger Dankbarkeit sogar das einzige Gefühl, das ich ihm verdanke. Ansonsten bestand er darauf, dass ich ihn Herr Thorwart nenne. Weil ich das blöd fand, sprach ich ihn gar nicht mehr an, was ihm auch recht war. Er hatte sowieso immer eine Predigt vorzubereiten und unterhielt sich lieber allein mit Gott über die Welt. Mutter dagegen durfte ich Mutter nennen und sie versuchte sogar nach Kräften, eine zu sein.
Ich dagegen wollte die Thorwarts von Herzen lieben und schon deshalb nicht mal im Traum Geschenke von meinen leiblichen Eltern. Es konnte kein gutes Zeichen sein, wenn sie noch lebten. Warum sollten sie mich sonst erst allein gelassen haben? Tot passten sie besser zu mir, in die Zeit und die allgegenwärtige Verehrung der Opfer des Faschismus. Als Vollwaise konnte ich sogar den OdF-Veteranen, die wir an jedem zweiten Pioniernachmittag besuchten, halbwegs auf Augenhöhe begegnen.
Mit ungefähr 14 ging Herrn Thorwart mein ständiges Gerede über Konzentrationslager dermaßen auf die Nerven, dass er mir zigmal vorrechnete, meine Eltern könnten niemals im Dritten Reich verschwunden sein, weil ich erst 1959 geboren wurde. Das leuchtete leider ein. Trotzdem mochte ich ihm kein Wort glauben und schrie jedes Mal, woher er überhaupt wissen wollte, wann genau ich geboren war? Als er eines Tages meine Geburtsurkunde auf den Tisch knallte, weinte seine Frau und ... na ja, entschuldige! Ich wollte dich damit nicht langweilen.
Was ich eigentlich sagen wollte, war nur, wie gut mir deine Stielaugen getan hatten.
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