Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
eigentliche Form, seinen eigentlichen Sinn. Das leere Starren verschwand, die bleichen, langgestreckten Gesichter veränderten sich.
»Du siehst … müde aus«, sagten die Münder. »Willst du dich nicht ausruhen? Dich uns anschließen? Es wird dir bei uns an nichts fehlen.«
Ja, der Meister hatte recht: Er war müde. Unendlich müde. Und ja, er wünschte sich nichts sehnlicher, als mit dem Kämpfen aufzuhören. Aufzugeben … Winzige Tränen bildeten sich in seinen Augenwinkeln, und er fürchtete, seine Knie könnten nachgeben.
»Die Menschen, die du liebst – sie sind bei mir«, sagten die Münder.
Die Worte so geschickt gewählt, so einladend … Ephs Hände zitterten, als er über seine Schulter nach den ledernen Griffen der beiden Silberschwerter langte. Sie langsam aus ihrer Scheide zog. Vielleicht war es schon die Wirkung des Medikaments – jedenfalls machte etwas in seinem Kopf Klick , und plötzlich sah er Nora und Vasiliy vor sich. Seine Gefährtin. Seinen Freund. Zwei Menschen, denen er vertraut hatte und die sich gegen ihn verschworen hatten. Ja, es schien ihm, als hätten ihn die beiden hier die ganze Zeit über beobachtet. Wie er nach den Medikamenten gesucht hatte. Eph, der verzweifelte Junkie. Aber sie hatten ihn doch erst dazu gemacht …
»Nein«, sagte er. Er brachte das Wort – das Wort, mit dem er dem Meister seine Gefolgschaft versagte – kaum über die Lippen; es klang eher wie ein Krächzen. Und er versuchte auch nicht mehr, die Gefühle, die in ihm tobten, zu unterdrücken. Er lenkte all seinen Zorn auf den Herrn der Vampire.
»Wie du willst. Aber täusch dich nicht – wir sehen uns bald wieder«, sagten die Münder, und in diesem Moment verließ der Meister die beiden bleichen Körper wieder. Als wären die Marionettenfäden gekappt worden, lösten sie sich aus ihrer Starre, sprangen los, landeten auf allen Vieren und funkelten Eph an, bereit zur Attacke.
Doch Eph gab ihnen nicht die Möglichkeit zu einem koordinierten Angriff – in jeder Hand ein Schwert rannte er blitzartig auf den männlichen Vampir zu. Die Kreatur entkam gerade noch dem tödlichen Hieb, doch die Klingenspitze streifte sie, und die Wunde war tief genug, dass weißes Blut austrat. Strigoi spürten nur selten körperliche Schmerzen – aber sie spürten es, wenn die Waffe aus Silber war. Der Vampir krümmte sich und hielt sich die Seite.
Diesen Moment der Unaufmerksamkeit nutzte Eph instinktiv aus: Er brachte eines der Schwerter auf Schulterhöhe, drehte sich einmal um die eigene Achse und schlug dem Vampir den Kopf ab – ein glatter Schnitt direkt unterhalb des Kinns. Reflexhaft hob die kopflose Kreatur noch die Arme, dann brach sie zusammen.
Ohne innezuhalten, wirbelte Eph wieder herum – und sah, wie der andere Vampir auf ihn zusprang. Die langen klauenartigen Mittelfinger schossen auf Ephs Gesicht zu, aber er drehte sich im letzten Augenblick und wehrte den Vampir mit seinen Armen so geschickt ab, dass die Kreatur gegen die Wand geschleudert wurde. Die beiden Schwerter glitten Eph dabei allerdings aus den Händen – er hatte einfach nicht mehr genug Kraft.
Mit dem Kämpfen aufhören … Aufgeben …
In Sekundenschnelle war der strigoi wieder auf allen Vieren und funkelte Eph an – ja, die Augen des Vampirs schienen ihn geradezu durchbohren zu wollen. Die Augen, hinter denen sich der Meister verbarg. Der Meister, der Eph alles, was er geliebt hatte, genommen hatte … Wieder flammte glühender Hass in ihm auf. Er holte die beiden silbernen Haken aus der Tasche und streckte sie dem Vampir entgegen.
»Na komm! Zeig mir, was du drauf hast!«, rief er.
Der Vampir stürmte los – und Eph ebenfalls. Er hatte diesen Bewegungsablauf während seiner U-Bahn-Fahrten Hunderte von Malen geübt, wie ein Arbeiter, der in einer Fischfabrik tagein, tagaus Thunfische abschuppte. Und er wusste genau, worauf er zielen musste.
Der eine Haken bohrte sich in die Kehle des Vampirs, und Eph drückte ihn mit aller Kraft hinunter, blockierte so den Stachel, zwang die kreischende Kreatur in die Knie. Der andere Haken traf das Auge und blieb dort stecken, so dass Eph eine Hand frei hatte, um sie dem strigoi unter den Kiefer zu pressen. Vor vielen Jahren hatte ihm sein Vater diesen Trick beigebracht, als sie in den Sommerferien an einem kleinen Fluss im Norden Schlangen gefangen hatten. »Drück den Kiefer zu, mein Sohn. Verschließ ihr den Mund, damit sie dich nicht beißen kann.« Nur wenige Schlangen waren wirklich
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