Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
daran, ständig zu plappern. Nora legte den Arm um die alte Frau und schob sie langsam den Gehsteig entlang – als sich plötzlich ein Armeelastwagen der Kreuzung näherte. Nora zog ihre Mutter fest an sich, um zu verhindern, dass sie irgendeine unkontrollierte Bewegung machte, senkte den Kopf und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie der Wagen vorbeifuhr. Ein strigoi saß am Steuer.
»Wenn ich diesen Vermieter erwische – der kann sich auf was gefasst machen!«
Sie konnten von Glück sagen, dass es regnete. Regen bedeutete Regenmäntel; Regenmäntel bedeuteten Kapuzen. Alte und gebrechliche Menschen hatten keinen Platz in der Welt der Vampire, und Nora hätte das Risiko, sich in aller Öffentlichkeit mit ihrer Mutter zu zeigen, nie auf sich genommen, hätte sie eine andere Wahl gehabt.
»Mama, wollen wir das Sei-still-Spiel spielen?«
»Er kümmert sich um nichts. Seit Monaten tropft es durch das Dach.«
»Wer kann am längsten still sein, ich oder du?«
Sie überquerten die Straße. Von der Ampelanlage über ihnen baumelte der Körper eines Menschen. Eine Warnung der strigoi , nicht ungewöhnlich auf der Park Avenue. Ein Eichhörnchen saß auf der Schulter des Toten und kämpfte mit zwei Tauben um die besten Stücke.
Nora wollte ihre Mutter schon in eine andere Richtung lenken, um ihr den Anblick zu ersparen, aber Mrs. Martinez nahm die Leiche gar nicht wahr. Kurz darauf gingen sie die vom öligen Regen glitschigen Stufen der U-Bahn-Station hinunter. Unten angekommen, wollte ihre Mutter wieder die Kapuze abnehmen; leise schimpfend hinderte Nora sie daran.
Sämtliche Drehkreuze waren abmontiert, und der MetroCard-Automat war außer Betrieb. Nur die zahlreichen Schilder mit der Aufschrift MELDEN SIE ALLE VERDÄCHTIGEN AKTIVITÄTEN DER POLIZEI waren unangetastet geblieben. Nora sah zwei Vampire am anderen Ende des Zwischenstocks, doch sie waren offenbar mit irgendetwas beschäftigt und würdigten die Frauen keines Blickes. Also schob Nora ihre Mutter schnell die Treppe zum Bahnsteig hinunter und hoffte inständig, dass gleich ein Zug kommen würde. Unten legte sie den Arm um die alte Frau, um sie ruhig zu halten, wobei sie so tat, als sei diese Umarmung die natürlichste Sache der Welt.
Eine Handvoll Pendler stand auf dem Bahnsteig. Während sie auf ihren Zug warteten, lasen sie ein Buch oder hörten Musik. Es war, als hätte sich nichts geändert. Lediglich die Handys und die Tageszeitungen fehlten. Und an den Steinsäulen in der Mitte des Bahnsteigs hingen nicht wie früher die Fahndungsfotos von Terroristen oder anderen Schwerstkriminellen, sondern das Porträt von Dr. Ephraim Goodweather aus seinem ehemaligen CDC -Ausweis. Nun war Eph der Terrorist, der Staatsfeind Nummer eins.
Nora schloss für einen Moment die Augen und verfluchte ihn in Gedanken. Sie hatte in der Gerichtsmedizin auf ihn gewartet. Und sie hielt sich dort nur äußerst ungern auf, nicht weil sie empfindlich war – weiß Gott nicht –, sondern weil das Gebäude so weitläufig, so exponiert war. Gus Elizalde, der ehemalige Straßengangster, der nach seiner Begegnung mit Abraham Setrakian zu ihrem treuen Verbündeten geworden war, hatte sich unter der Erde sein kleines Reich geschaffen. Vasiliy hatte Roosevelt Island – wohin sie gerade unterwegs waren. Und Eph?
Es war so typisch für ihn. Eph war ein guter Mensch und in gewisser Weise auch ein Genie, aber er kam immer ein paar entscheidende Minuten zu spät. Er lief den Dingen immer hinterher.
Nur wegen ihm hatte sie einen Tag länger gewartet. Aus Loyalität – und vermutlich auch, weil sie sich schuldig fühlte – hielt sie den Kontakt zu ihm aufrecht, wollte sie sich immer wieder vergewissern, dass es ihm gut ging. Die Vampire hatten die Gerichtsmedizin durch den Haupteingang betreten; Nora saß gerade am Computer und schrieb Vasiliy, als sie das Glas zerbrechen hörte. Sie weckte ihre Mutter, die in ihrem Rollstuhl eingeschlafen war, und dann machten sie, dass sie so schnell wie möglich wegkamen. Natürlich hätte Nora die Vampire töten können, aber damit hätte sie Ephs Versteck preisgegeben und den Meister zu ihnen geführt. Und im Gegensatz zu Eph war sie nicht so leichtfertig, den Zusammenhalt ihrer Gruppe aufs Spiel zu setzen.
Jedenfalls nicht, wenn es um den Meister ging. Auf eine andere Art hatte sie Eph allerdings bereits hintergangen – daher ihre Schuldgefühle. Aber auch in diesem Fall war er eben einige entscheidende Minuten zu spät gekommen … Sie war immer
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