Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
gefunden, dem sie sich anvertrauen konnte –, doch der andere, größere Teil bebte vor Wut. War er eifersüchtig, weil sie ihm weggelaufen war? Mein Gott, er hatte schließlich andere Probleme! War er zornig, weil jemand anderer sein zerbrochenes, lange vergessenes Spielzeug gefunden hatte und er es jetzt plötzlich wieder zurückhaben wollte? Was wusste er überhaupt über sich? Kellys Mutter hatte gesagt, dass er immer zehn Minuten zu spät kam – zu allen entscheidenden Terminen in seinem Leben. Zu spät zu Zacks Geburt, zu spät zu ihrer Hochzeit, zu spät, um seine Ehe zu retten, zu spät, um Zack zu retten … um die Welt zu retten … Und jetzt …
Jetzt hatte er auch Nora verloren. Und er hatte nichts getan, um das zu verhindern … Inmitten all des Schmerzes und der Verwirrung empfand er aber auch ein Gefühl der Erleichterung. Nun musste er nicht mehr ständig seine Fehler wiedergutmachen, nicht mehr ständig seine Abwesenheit erklären, nicht mehr ständig Nora besänftigen. Doch genau in dem Moment, als er sich über dieses Gefühl freute, blickte er zur Seite – und sah sein Bild im Spiegel an der Wand.
Es war das Bild eines alten Mannes. Ja, er sah viel älter aus, als er tatsächlich war: Die Augen lagen tief in den Höhlen, und die Wangenknochen stachen hervor, spannten die fahle, dünne Haut. Und er sah verwahrlost aus: Die Haare klebten an der verschwitzten Stirn, die Kleider, monatelang nicht gewaschen, waren starr vor Schmutz.
Und da wunderst du dich?
Er sprang auf, klappte den Computer zu, griff nach der Waffentasche, lief die vier Stockwerke hinunter, verließ die Gerichtsmedizin, ging durch den strömenden Regen hinüber zum Bellevue Hospital. Dort stieg er durch ein zerbrochenes Fenster und durchquerte die dunkle, leere Eingangs halle des Krankenhauses – folgte den Schildern Richtung Notaufnahme.
Die Notaufnahme des Bellevue hatte früher einen erstklassigen Ruf gehabt. Den Ärzten hatte die allerbeste Technik zur Verfügung gestanden. Und die allerbesten Medikamente.
Eph ging ins Schwesternzimmer – und sah, dass der Medikamentenschrank aufgebrochen und geplündert worden war. Ebenso der Kühlschrank. Keine Perks, keine Vikes, kein Demerol. Verdammt! Alles, was er finden konnte, waren ein paar Betablocker. Er nahm die weißen Pillen aus ihren Verpackungen und verstaute sie in der Tasche, wobei er sich – immerhin war er Arzt und konnte sich das Zeug selbst verschreiben – zwei davon gleich in den Mund steckte und trocken hinunterschluckte. Dann wandte er sich um und …
… erstarrte.
Er hatte sich so hektisch bewegt, hatte so viel Lärm gemacht, dass er ihre Geräusche nicht gehört hatte. Ihre nackten Füße auf dem Linoleumboden.
Zwei strigoi standen in der Tür. Sahen ihn mit leeren, roten Augen an.
Der eine, der größere, war früher ein Mann gewesen, der andere – man konnte die verschrumpelten Brüste gerade noch erkennen – eine Frau. Es waren voll ausgereifte Vampire, haarlos, bleich, nackt. Dicke Arterien liefen wie ein pulsierendes Wurzelgeflecht vom Rücken über das Schlüsselbein zur Brust, und der schlaffe Hautsack unter ihren Hälsen baumelte wie bei einem Truthahn im Rhythmus ihrer Bewegungen hin und her; er kennzeichnete den Rang dieser Vampire und war das Merkmal eines erfahrenen Jägers – schlaff und bleich, wenn die Kreatur Nahrung suchte, rot und angeschwollen, wenn sie gerade gespeist hatte.
Waren es dieselben Vampire, die Nora und ihre Mutter in der Gerichtsmedizin attackiert oder von dort vertrieben hatten? Irgendetwas sagte Eph, dass es so war – was bedeutete, dass Nora höchstwahrscheinlich nicht verwandelt worden war.
Plötzlich meinte er ein Aufblitzen in den Augen der Kreaturen zu erkennen. Normalerweise gab es keine Anzeichen dafür, dass ein funktionierendes Gehirn die Schritte der Vampire lenkte, aber diesen Ausdruck hatte Eph schon einige Male gesehen: Es bedeutete, dass sie ihn erkannt hatten. Und dass sie ihren Fund auf telepathischem Weg dem Meister übermittelt hatten. Schon bald würde es hier vor Vampiren nur so wimmeln.
»Ephraim Goodweather …«, ertönte es nahezu gleichzeitig aus den Mündern der beiden strigoi , deren Körper sich nun wie Marionetten an einem unsichtbaren Faden bewegten.
Und dieser Faden war der Meister.
Fasziniert und angewidert zugleich, beobachtete Eph, wie der Meister sich der beiden Vampire bemächtigte. Es war, als steckte man eine Hand in einen Handschuh und gab ihm damit erst seine
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