Die Nacht - Del Toro, G: Nacht - Night Eternal (Bd. 3 The Strain Tril.)
ergab sich ja bald die Möglichkeit zur Flucht.
Also zog sie sich aus und duschte. Zuerst war es ihr etwas unangenehm, aber dann bemerkte sie, dass ihre Aufpasser mit leerem Blick an ihr vorbei auf die hintere Wand starrten. Die strigoi hatten keinen Sinn für die Ästhetik des menschlichen Körpers.
Das kalte Wasser – es wollte einfach nicht warm werden – fühlte sich seltsam an: Erst prasselte es ihr wie winzige Nadeln auf die Haut, dann lief es ihr in einem kühlen Schwall den Rücken und die Beine hinunter. Und trotzdem war es wunderbar. Nora griff nach einem Stück Seife, setzte sich auf die Fliesen und schäumte sorgfältig jeden Teil ihres Körpers ein. Und immer wieder hielt sie sich die Seife an die Nase und genoss den Duft von Rosen und Flieder. Es war, als würde die Vergangenheit wieder lebendig werden: Irgendjemand hatte irgendwann diese Seife angefertigt und zusammen mit tausend anderen Seifen verpackt und verschickt, und das an einem ganz normalen Tag mit Verkehrsstaus und Schulausflügen und eiligen Mittagessen. Irgendjemand hatte sich irgendwann gedacht, dass sich eine Seife, die nach Rosen und Flieder roch, gut an die zahllosen Hausfrauen und Mütter, die sich durch die überfüllten Kmarts und Walmarts schoben, verkaufen würde. Und jetzt war diese Seife hier – in einer Blutfabrik. Ein archäologisches Artefakt, das nach Rosen und Flieder und einer vergangenen Welt roch.
Auf einem Schemel fand Nora einen frischen grauen Overall und einen weißen Baumwollslip. Sie zog sich an, und dann brachten sie die beiden Vampire durch den Quarantäne-Bereich zum Lagertor, wo bereits zwei Limousinen auf sie warteten. Die Vampire bedeuteten Nora, hinten in den ersten Wagen einzusteigen, während die Türen des zweiten geschlossen blieben. Dann setzte sich die merkwürdige Karawane in Bewegung.
Eine durchsichtige Hartplastikscheibe trennte Nora von der Fahrerin des Wagens. Sie war menschlich, vielleicht Mitte zwanzig, und trug Chauffeursuniform. Unter ihrer Schirmmütze spitzte keine einzige Haarsträhne hervor, also war sie vermutlich ebenso kahlrasiert wie die übrigen Lagerinsassen. Die Haut in ihrem Nacken und an ihren Händen wies jedoch eine gesunde Färbung auf – was darauf schließen ließ, dass sie nicht regelmäßig Blut spenden musste.
Nora wandte sich um und sah durch die hintere Windschutzscheibe auf den nachfolgenden Wagen. Das diffuse Licht der Scheinwerfer im strömenden Regen trübte ihren Blick – trotzdem meinte sie an den Umrissen des Fahrers zu erkennen, dass er ein Vampir war. Wozu der zweite Wagen? Für den Fall, dass sie einen Fluchtversuch unternahm? Das dürfte ihr einigermaßen schwerfallen: Die Türen in der Limousine hatten keine Schlösser oder sonstige Armaturen – sie befand sich in einer rollenden Gefängniszelle.
Eigentlich hatte Nora mit einer langen Fahrt gerechnet, doch schon nach wenigen Kilometern bog der Wagen links ab und fuhr durch ein offenstehendes Tor. Nora kniff die Augen zusammen und erkannte im nebligen Dunst am Ende des kurvigen Schotterweges ein Haus, wie sie in ihrem Leben nur wenige gesehen hatte. Es hätte eher nach Frankreich oder Italien gepasst: ein weit ausladendes Schloss, dessen hohe Fenster alle in sanftem Gelb leuchteten – als würde hier ein vornehmer Empfang stattfinden.
Die Fahrerin hielt vor dem Haupteingang und blieb stumm hinter dem Lenkrad sitzen. Kurz darauf kam ein Mann mit Regenschirm aus dem Haus – offenbar der Butler –, öffnete die hintere Tür der Limousine und bedeutete Nora auszusteigen. Dann gingen sie gemeinsam im Schutz des Regenschirms die marmornen Stufen zur Eingangstür hinauf. Im Vorraum legte der Butler den Schirm zur Seite, nahm ein weißes Handtuch von einem Gestell, ging in die Knie und säuberte Noras Füße. Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Was zur Hölle ging hier nur vor?
»Hier entlang bitte, Dr. Martinez«, sagte der Butler dann und führte Nora über den kühlen Steinboden des Vorraums einen breiten Gang hinunter. Sie sah hell erleuchtete Zimmer, spürte die warme Luft der Klimaanlage, roch den wunderbaren Duft von Reinigungsmittel. Alles hier war so zivilisiert. So menschlich.
Träume ich das alles etwa?
Am Ende des Flurs angekommen, öffnete der Butler eine Flügeltür, und Nora betrat einen großen Speisesaal. Und hielt den Atem an. Ein langer verzierter Holztisch, gedeckt für zwei Personen. Darauf standen Porzellanteller mit Goldrand und Wappen in der Mitte. Die Gläser waren aus
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