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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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mein Freund. Vergessen Sie bitte nicht, mir in Ihrem nächsten Brief zu bestätigen, dass sie all dies längst gewusst haben. Ich werde erst dann fortfahren können, Ihnen von meinen erstaunlichen und für Ihre Frage nach dem Verschwinden des Geldes bedeutsamen Erlebnissen auf der Insel des ›toten‹ Antimago zu berichten.

5
    GIACCO SCHEINT MIR mehr besorgt zu sein, als seiner Jugend gut tut. Vielleicht wird er erwachsen. Die seit gestern über die Berge gefallene Hitze irritiert den Jungen, obwohl sie, nun endlich, der Jahreszeit angemessen ist. Vielleicht hatte er sich damit abgefunden, dass das Wetter nicht mehr übereinstimmte mit den Erzählungen seiner Mutter, die im Laden unten, mit den anderen älteren Frauen einig, von ihren Jugendfrühlingsmonaten als der »Sonnenzeit« spricht und im Frost der vergangenen Wochen ein Zeichen des Untergangs sieht. Kälte, Alter und Todesangst verbünden sich in diesen Gesprächen zwischen Eiern, Käse und Mortadella. Nun kam Giacco heute im weißen Unterhemd und über den Knien abgeschnittenen Jeans den Weg herauf, sein Gesicht glänzte schweißnass, sein fast schwarzes Haar lag, von der Feuchtigkeit gekringelt, dicht am Kopf an, ein paar nasse Locken klebten an der Stirn. Er war auffallend blass, setzte sich auf die kleine Bank am Rand der Terrasse und hielt mir von dort Ihren Brief entgegen. Die Hunde begrüßten ihn träge, er vergaß sein sonst übliches sanftes Klopfen auf ihre Flanken. Als ich von meinem Tischchen aufstand und die wenigen Schritte auf seine ausgestreckte Rechte zuging, ließ er sie sinken, als habe die Geste ihn erschöpft. »Was ist los mit dir, Giacco? Hast du Fieber?« Er schüttelte stumm den Kopf, ich nahm ihm den Brief aus der Hand und sah, dass sie zitterte.
    »Willst du ein Glas Milch?« Er schwieg und starrte zwischen seinen braunen Knien hindurch auf den Boden, wo die Ameisen seine Turnschuhe umkreisten. »Ist dir unter den Oliven ein Geist begegnet? So ein winziger knorriger Typ mit glühenden Augen und auf dem Kopf lauter Feigenblätter? Vor dem musst du keine Angst haben, er ist mir aus einer Erzählung entwischt, bevor ich ihn streichen konnte, und treibt sich seither hier draußen herum.« Immerhin hob er den Kopf und versuchte ein Lächeln, aber wohl nicht, weil mir gelungen wäre ihn zu erheitern, sondern um mir für meinen Versuch zu danken. Ich ging ins Haus, holte zwei Gläser Rotwein und setzte mich neben Giacco auf die Bank. Er sah mich verwundert an, aber er trank folgsam, setzte das Glas auf dem Knie ab und sagte: »Ludovico hat heute früh im Laden erzählt, in einem Monat wären wir alle tot. Erst würden die Kirchen einstürzen, dann würde sich alles Geld in Mamas Kasse in Blut verwandeln, dann würden die Eidechsen anfangen zu reden, und dann würden die Olivengärten brennen. Und dann –« »Ludovico ist über achtzig, er trinkt Grappa zum Frühstück und ist immer etwas wirr im Kopf, du weißt es, er setzt sich unten an die zweite Serpentine, winkt jedem Auto zu und erzählt am Abend in Marcellos Kneipe, er hätte heute wieder neun Fahrer verhext, die kämen nie wieder nach Pantasina, denn sie wären in zwei Tagen tot. Glaubst du ihm das?« Giacco schüttelte heftig den Kopf. »Aber heute früh hat Mama sich vor Schreck in den Finger geschnitten, als sie für Seniora Scalfa die Haut von der Salami abgezogen hat, und die Kassenschublade stand offen, und ich habe gesehen, wie von Mamas Hand das Blut auf das Geld getropft ist. Auch Ludovico hat es gesehen, und ›Da! Da!‹ hat er gerufen und sich vor den Kopf geschlagen und ›O wir Armen!‹ geschrien und ist aus dem Laden gelaufen.« »Bestimmt mit einer Flasche Grappa unterm Hemd. Er ist ein sehr geschickter Dieb. Aber du hast seither Angst, die Eidechsen an der Wegmauer könnten dich ansprechen und sagen, ›He, Giacco, weißt du schon, dass morgen die Welt untergeht?‹« »Nein. Ich hab nur Angst vor dem Blut in Mamas Kasse.« Wieder ließ er den Kopf hängen und starrte auf seine Füße. Während er sprach, hatte sich das Zittern seiner Hand im ganzen Körper ausgebreitet. Es hatte auf seine Knie übergegriffen, seine glänzenden Schultern, seinen Nacken; er saß schlotternd in der heißen Sonne, als ob er in der bittersten Kälte fröre. Ich wollte den Arm um ihn legen, aber etwas hielt mich ab. Er machte auf mich den Eindruck eines Kindes, das seine Angst nur mitteilen, aber nicht loslassen will. »Was hat denn Signora Scalfa gesagt, als Ludovico aus dem Laden

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