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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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gelaufen war?« »Sie hat gelacht.« Ich war beruhigt, dass meine Nachbarin Charisia offenbar unanfällig für Ludovicos Vorhersagen war, und bat Giacco, zu überlegen, warum Signora Scalfa lachen konnte, während er, ein junger Mann, vor Angst verging. »Ich weiß nicht, warum ich nicht auch gelacht habe.« »Dreh dich einmal um, Giacco! Schau hinaus, dort, aufs Tal, schau auf die Häuser, sieh dir die Eichenwälder an, die Pinien, und dort hinten das Meer! Siehst du die Campaniles in den Dörfern einstürzen? Da hinten in Vasia? Und rechts davon in Dolcedo? Neigen sich die Kirchtürme? Siehst du Olivengärten brennen?« Endlich hob er wieder den Kopf und sah mich an. Das Zittern ließ von ihm ab. Er drehte sich um und blickte zum Meer. »Nein«, sagte er leise. »Und über dem Meer«, fragte ich, »ist da ein Himmel voller Licht oder ist da kein Himmel, ist es da schwarz und leer?« »Natürlich ist da ein Himmel«, sagte Giacco, nun schon fast trotzig. »Ich sehe ihn ja!« »Was meinst du, ist in dem Himmel beschlossen worden, dass die Eidechsen reden werden?« »Ich glaube nicht.« Jetzt verebbte das Zittern ganz, und er wurde ruhig und kniff die Augen zusammen und sah direkt in den Himmel. Ich legte meinen Arm um seine Schulter. »Wir werden, denke ich, Ludovico einmal einladen müssen, damit er uns sagt, hier auf meiner Terrasse sagt, ob er auch die Kirchtürme sieht, auch das Meer, auch den Himmel.« »Aber Ludovico wird nicht heraufkommen. Ludovico sitzt in seinem Häuschen hinter der Olivenmühle, oder er sitzt auf seinem alten Stuhl unten an der Straße. Er kommt nie zu dir. Du bist ein Fremder.« »Ich weiß, Giacco. Ludovico lebt hier schon seit über achtzig Jahren. Aber in den Jahren, in denen ich hier lebe, immerhin auch schon mehr als zwanzig, habe ich ihn viermal den Untergang der Welt ankündigen gehört. Und was ist? Ist die Welt untergegangen, Giacco?« Er schob meinen Arm von seinen Schultern, stand auf und sah mich an. »Soll ich wirklich sagen, was ich glaube?«
    »Ja!« »Ich glaube, ich weiß es nicht.« »Was weißt du nicht?« »Ich weiß nicht, ob die Welt untergegangen ist.« Er drehte sich um und rannte davon, an den Kirschbäumen vorbei, deren Blüten braun geworden waren, rannte dicht an der Mauer aus geschichteten Steinen entlang den steilen Weg hinunter ins Dorf. Ich suchte Ihren Brief, lieber Freund, und ich fand ihn nicht. Sie können sich denken, dass ich beunruhigt war, denn es ging mir nicht anders als Giacco: Ich hatte in der Wirklichkeit dieses Vormittags keinen sicheren Stand. Ich suchte auf der Terrasse, unter meinen Papieren, im Haus auf dem Küchentisch, ich fand ihn nicht. Sie wissen, mit welcher Ungeduld ich gerade auf diesen Brief von Ihnen gewartet habe. In meinem Kopf klang noch immer Giaccos Satz nach, dass er nicht wisse, ob die Welt untergegangen sei oder nicht. Ich zweifelte plötzlich, ob Giacco hier gewesen war und mir einen Brief gebracht hatte – und doch wusste ich es, so fest, wie ich wusste, dass es das Meer und den Himmel gab. Ich ging die Wege noch einmal ab, die ich seit Giaccos Eintreffen zurückgelegt hatte. In der Küche erst fiel mir ein: Ich hatte ihm zunächst ein Glas kaltes Wasser bringen wollen, bevor ich, einem plötzlichen Entschluss folgend, die Wasserflasche in den Kühlschrank zurückgestellt und mich für Rotwein entschieden hatte. Da lag er, der Brief, gut sichtbar neben Butter und frischem Ziegenkäse, im Kühlschrank. Ich lief in die Sonne hinaus, das kalte Papier in den Fingern. Wie gut, wie unendlich gut hat mir getan, dass Sie jedes meiner Worte in meinen letzten Mitteilungen bestätigt haben! Ja, Sie haben mich ganz unnötig auf die Probe gestellt. Oder doch nicht, denn auch wenn Sie mir nun zugeben, dass Sie die Geschichte des Antimago kannten, ja vielleicht sogar besser kannten als ich, so habe ich doch durch Ihre Prüfung Gelegenheit gehabt, mich noch einmal der Tatsachen zu vergewissern. Ich kann also sicherer als je schildern, was ich auf der Insel im Fallinger See erlebte. Denn dies ist Ihnen neu, und Sie sollten jedes Detail daraufhin ansehen, ob es helfen könnte, die derzeitige Vernichtung des Geldes zu verstehen und möglicherweise noch einmal abzuwenden. In dem Kurhotel, das ich für meinen Aufenthalt in Falling gewählt hatte, konnte man mir auf meine Frage, wer jene Anna sei, der ich am Steg begegnet war, nur wenige Auskünfte geben. Sie gehöre irgendwie zur Gedenkstätte, betreibe aber im Übrigen eine Gärtnerei mit

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