Die Nacht der Haendler
Brust, hielt meine Schultern fest und schaute auf das Meer. Es schien mir ferner zu sein als sonst. Die Täler und Olivenhänge, die kleinen Dörfer mit ihren Kirchen lagen blass und undeutlich zwischen mir und der Küste. Aber dort, wo morgens das Meer unter dem von Osten aufsteigenden Licht mir sonst kleine Blitze sendet, lag heute früh eine Bank aus rötlichem Dunst. Nicht rosenfingrige Frühe … nein, wie der müde Widerschein eines den ganzen Horizont erfüllenden Feuers in seinem eigenen Rauch. Langsam hob sich der kalte Nebel, verhüllte alles, ich sah nur noch den Feigenbaum am Rand der Terrasse. Dann spürte ich im Rücken den Wind. Er zog die Nebelschwaden mit sich, und bald war das Bild des Tals, der Hänge, des Meeres klar wie gewohnt – doch ich fühlte mich um den Morgen betrogen. Signora Calises Bruder Antonio kam herauf und brachte mir Ihren Brief. Ungelesen ließ ich ihn liegen und bat Antonio, mich nach Imperia zu Giacco zu fahren. Wir sprachen kein Wort auf der Fahrt. Dann stand ich neben dem Bett des Jungen. Antonio hatte sich in der Fensterecke des Krankenzimmers auf einen Stuhl gesetzt, die Unterarme auf die Knie gelegt und seine Hände gefaltet. Giacco lag mit weit geöffneten Augen, sein Gesicht war rosig, er sah gesünder aus denn je. Die Maschine, die durch den Kehlkopfschnitt seine Lungen voll Sauerstoff pumpte, hob seinen Brustkorb regelmäßig und sanft an, ließ ihn einsinken, hob ihn wieder. Der Kopfverband sah aus wie eine jener weißen Mützen, die die Kinder während der Osterprozessionen in unseren Bergdörfern hier tragen, und mir fiel ein, dass ich Ihren ersten Brief am Karfreitag diesen Jahres von Giacco gebracht bekommen hatte. Antonio stand auf, trat neben mich ans Bett, beugte sich über den Jungen und küsste seine Stirn. Dann nahm er mich am Arm, wir gingen aus dem Zimmer, im Gang griff er nach meiner Hand, und so liefen wir beide, seine knorrigen, hölzernen Finger in meinen, bis zur Schwingtür zum Treppenhaus, er löste seine Hand aus meiner, stieß den gläsernen Türflügel auf. »Maria wird helfen«, sagte er, »Maria wird helfen.« Inzwischen, ferner Freund, habe ich gelesen, was Sie mir über die Hysterie an den Goldmärkten, den Zusammenbruch des Shell -Imperiums, die Pleiten von Ford, Volkswagen und Toyota, die weltweite Entleerung der Sparkonten und die damit verbundene Flucht in die Sachwerte geschrieben haben. Ich verstehe die Vorgänge nicht im Einzelnen, will Ihnen aber gern glauben, dass es für all diese Unruhe keine objektiv wirtschaftlichen Gründe gibt außer den Baisse-Spekulationen und Kreditkarten-Blasen. Aus dem Zerfall des Shell -Trusts lässt sich jedoch lernen, dass die plötzlich an allen Börsen gleichzeitig stürzenden Aktien nicht rechtzeitig aus dem Handel genommen werden konnten, um die in Gang gekommenen Abstoßbewegungen und Notverkäufe noch zu verhindern. Sollte man daraus nicht lernen, überhaupt keine Kurse mehr öffentlich bekannt zu geben? Das Aktienwesen insgesamt zu liquidieren? (Ich fürchte, Sie haben in mir keinen guten Ratgeber.) Bedauerlich finde ich, dass Sie die Erinnerung an Liliane und an Prag in meinem vorletzten Brief offenbar zu unangenehm fanden, um darauf wenigstens mit zwei, drei Worten einzugehen. Wie erst wird ihm, dachte ich, mein letzter Brief missfallen haben, in dem er selber in dieser Hinsicht eine gewisse Rolle spielt … Auch macht mir Ihre Ungeduld zu schaffen; ich habe das Gefühl, ich müsste mich gegen Ihren Anspruch auf schnelle Klarstellung meiner Vermutungen, wie denn das Geld vielleicht zu retten sei, zur Wehr setzen. Ich habe Sie bereits in meinem ersten Brief darauf aufmerksam gemacht, dass ich Ihnen keine Rezepte mitteilen, sondern eine Geschichte erzählen werde. Also drängen Sie mich nicht mit Fragen wie »Worauf aber läuft das hinaus?« oder Aufforderungen wie »Vermeide bitte nach Möglichkeit Umwege!« Ich weiß ja selbst nicht, wie wir uns in solcher Lage helfen können, und habe lediglich die Hoffnung, auf den windungsreichen Pfaden meiner Erinnerung möglicherweise den entscheidenden Hinweis zu finden! Ebenso wie Sie, sehe ich das weltweite Ende der Zivilisation nahen; da die Rechtssicherheit auf den Wohlstand gegründet ist, wird sie mit ihm fallen, und mit ihr das vereinbarte Verhalten. Der Nachbar, der dir gestern mit Salz aushalf, schlägt dir heute den Schädel ein, weil das Schädeleinschlagen nicht mehr allgemein verfolgt, sondern von den Leuten auf seiner Straßenseite oder von
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