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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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denen mit geraden Hausnummern gegenüber den ungeraden Hausnummern neuerdings belohnt wird. Auch scheint sich das Tempo nicht zu verlangsamen, sondern zu beschleunigen. Meine Indizien dafür sind allerdings nicht die Nachrichten aus der Welt des Geldes, die Sie mir in aller Ausführlichkeit und – wie ich Ihrem Stil entnehme – nur mühsam beherrscht, eigentlich unentwegt von Alarmsirenen begleitet, mitteilen. Ich erschrecke nachhaltiger darüber, dass meine Nachbarn, Carmen und Klaus-Peter Weihrich, meine Gewährsleute für den normalen Gang der Ereignisse, ihr bisher so beruhigend vorhersehbares Gebaren verloren zu haben scheinen. Klaus-Peter Weihrich hat sich vor drei Tagen zum ersten Mal geweigert, seine Frau zu einem ihrer Ärzte zu fahren. Es kam zum Streit, unüberhörbar, weil er auf der Weihrich’schen Terrasse ausgetragen wurde; Carmen, noch unbekleidet und soeben im Begriff, sich für ihren Arztbesuch herzurichten, fand nicht nur Wörter für ihren Mann, die ich in ihrem Sprachschatz nicht vermutet hätte – sie griff ihn, von seinem trotzigen »Nein« äußerst erregt, auch tätlich an, er musste sich, überrascht, die erste ihrer Ohrfeigen gefallen lassen, duckte vor der zweiten geschickt ab, was wiederum Carmen, vom eigenen, zielsicher aufgenommenen Schwung um die eigene Achse gerissen, das Gleichgewicht verlieren und nach ein paar haltsuchenden Trippelschritten auf die Knie stürzen ließ. Klaus-Peter, statt ihr in seiner ihm bis dahin eigenen Fürsorglichkeit aufzuhelfen, lachte kurz und frech, blieb aufrecht neben seiner wimmernden Frau stehen und sagte: »Damit du das ein für alle Mal weißt: ich dich zu einem Arzt – nie mehr!« Dann lief er, ungewohnt aufrecht, ins Haus, Carmen erhob sich mühsam und setzte sich achtlos auf die bereits auf dem Stuhl zurechtgelegten Dessous; sie waren grün wie der Weihrich’sche Opel; Carmens Knie bluteten. Klaus-Peter, dem ich unterstellt hatte, er sei im Haus auf der Suche nach Pflaster und desinfizierender Tinktur für seine Frau gewesen und wolle die Arztrolle für sich selbst reklamieren, kehrte mit einem Eimer voll Wasser und einem großen Naturschwamm in den Händen auf die Terrasse zurück, ging, ohne sie eines Blicks zu würdigen, an seiner verletzten Gattin vorbei zum Stellplatz und begann seinen Wagen zu waschen – mit Bewegungen, die ich nichts anders als zärtlich nennen kann. Charisia trat, angelockt von dem ungewöhnlichen Lärm, vor ihr Haus, erfasste mit einem Blick die Szene, lief an mir vorbei zu Carmen Weihrich hinunter, half ihr auf und führte sie durch die Terrassentür fort. Klaus-Peter blickte kurz zu mir herauf, nickte, obwohl ich nichts gesagt hatte, und fuhr weiter mit dem Schwamm übers Dach seines Opels. Als Zeichen der hässlichen Szene blieben ein paar Blutstropfen auf den Steinplatten und die grünen Dessous auf dem Stuhl zurück: plattgedrückt und zerknittert. Sie werden all dies für einen lapidaren Vorgang halten, unter Eheleuten nicht ganz unüblich. Ich sah darin ein Menetekel. Wenn Weihrichs die lebenslang geübte Haltung abhanden kam, konnten auch Steine den Berg hinaufrollen. Hier in den kleinen Orten, wo fast alles noch wie im vorletzten Jahrhundert ist, wird jede Änderung im gewohnten Gang der Dinge schärfer wahrgenommen als in Ihren Gegenden und Kreisen, in denen die rasende Metamorphose als Beweis fortschrittlichen Lebens gilt. In den ligurischen Bergen leben wir im Rhythmus der sich wandelnden Natur, nicht nach den wechselnden Einfällen des Marktes … Als die Weihrichs Charisia und mich am Abend des folgenden Tages zu einem Glas Wein einluden, eröffneten sie uns denn auch, dass dringende Umstände sie nötigten, ihren Urlaub abzubrechen; drei Gläser später gaben sie zu, sich sofort in Deutschland um ihre Altersvorsorge kümmern zu müssen, es gebe Hinweise auf eine bedrohliche Krise im Versicherungswesen. Viele würden sich jetzt vorzeitig auszahlen lassen und Immobilien erwerben. Am heutigen Nachmittag, kurz bevor sie abfuhren, kam Klaus-Peter, verschwitzt von der Anstrengung des Einpackens, zu mir in die Küche und bat mich, den »unerfreulichen kleinen Vorfall auf der Terrasse« zu vergessen. »Sie wissen ja, es ist nicht unsere Art, aber man kann eben in solchen Zeiten mit dem Geld nicht so herumaasen, wie meine Gattin das manchmal tut.« »Herumaasen«, so nannte er die Sehnsucht seiner Gattin nach ärztlicher Zuwendung, die er mit einer kleinen anagrammatischen Bemühung als zärtliche Zuwendung

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