Die Nacht der Haendler
dampfende Eiskruste, versank und hinterließ im Eis den Ausschnitt seiner Form. Ich stieg vom Schlitten, sah die Maschine im schwarzen Wasser als silbernes Gefährt in die Tiefe schweben. Meine Messer warf ich hinterher. Ich erwachte, blickte ins Licht der Deckenlampe, stand auf und öffnete das Fenster. Vor hellem Nachthimmel das schiefergraue Wolkentheater, ein großer, glühend roter Vollmond lagerte auf den Kronen der Uferbäume. Vor ihm zog eine Regatta aufgetakelter Gondeln mit zerfetzten Segeln einem geheimen Treffpunkt zu. Zottige Tiere folgten ihnen und spiegelten sich in den gläsernen Dachflächen des Oktogons, das im Licht des Mondes zu brennen schien. Auf der Wiese davor zuckte ein Schattenwesen im hellen Gras, das mit seinen Sprüngen seine Form wechselte und bald die Gestalt eines riesenhaften Hundes, bald die eines Vogel Roch annahm, sich zu einem Schmetterling weitete, verpuppte und plötzlich als spitzer schwarzer Kegel erstarrte, der sich nach einer Weile aufzuwickeln schien wie ein Tuch und zu Boden sank. Daraus erhob sich wieder die Hundsgestalt, richtete sich auf den Hinterbeinen auf und tanzte derart unbeholfen, hochgereckt, einknickend, weit zurückgebeugt und schwankend im Mondlicht über die Wiese, als sei sie eine Marionette, die einem betrunkenen Spieler in die Hände gefallen ist. Ab und zu blitzte während der Verwandlungen der Figur etwas an ihr auf. So fremdartig und unheimlich die Szenerie auch war: Ich wusste, dass ich nicht träumte. Größere Wolkengondeln glitten jetzt vor den steigenden Mond, das Gras wurde von ihren Schatten überflogen, und das Wesen duckte sich in ihr Dunkel. Die Wolken zogen weiter, das Wesen blieb verschwunden. Ich zog mich an. Hinter den Nibelungenfenstern der Eingangshalle strahlte der höher stehende, nun auf seinen üblichen Umfang geschrumpfte und kalt leuchtende Vollmond genau durch Brunhilds Brust. Ich lief aus der Tür, umrundete die Nordostseite des Hauses. Das Oktogon mit der Schmetterlingspyramide des »Allerwirklichsten« war geschlossen. Ich suchte die Wege ab, näherte mich dem Hain der Gräber und sah das Wesen dort stehen. Es war Stieftaal. In seiner weiten Kutte, die Kapuze über den Kopf gezogen, stand er am Grab des Antimago, in der linken Hand eine Weinflasche, und pisste in hohem Bogen auf Reepers letzte Ruhestätte, so dass der Strahl den Stein mit der Inschrift THIS LIFE IS FICTION – REALITY BEYOND THE STARS traf, von den Bronzebuchstaben seitwärts spritzte und auch die Steine von Lucia Vonghi und Elisabeth Reeper mit dem Urin nässte. Der Gestank war so deutlich, dass er frühere gleichartige Abschläge vermuten ließ, deren versammelte Salze von der neuen Urinzufuhr gelöst wurden.
Nach ein paar kurzen, stoßweise nachgepissten Bögen, die in der Erde des Grabes versickerten und bei denen Stieftaal leise stöhnte, ließ er die Kutte zurückschwingen und wandte sich um. Er sah mir lange stumm ins Gesicht, streckte dann die rechte Hand aus und sagte: »Helfen Sie mir, der Mond hilft mir ja nicht.« In dieser Nacht, verehrter Freund, musste mir Stieftaal, ob ich wollte oder nicht, die Geschichte seines Lebens erzählen. Wir saßen uns wie bei unserer ersten Begegnung an dem langen, weißgescheuerten Tisch in der Küche gegenüber, und der alte Terrorist sprach vom Sterben, von seiner Furcht, danach vielleicht all jenen wieder zu begegnen, die er im Auftrag Reepers ermordet, und jenen zahllosen, denen er mit seiner Erfindung der explodierenden Fotoapparate das Augenlicht geraubt hatte.
Nur langsam begriff ich, dass dieser Alte, der sich beim Reden an Glas und Flasche festhielt, eine Möglichkeit suchte, zu beichten, ja, dass er verzweifelt bemüht war, vor dem Tod, den er nah wusste, aus dem Bildergefängnis seiner Angst befreit, von dem Grauen, das er beim Blick über die Grenze in sich vorfand, erlöst zu werden. Zwischen jenem »Stieftaal le Diable«, der zu seinem Prozess in Paris stets elegant, überheblich, siegesgewiss erschienen war, der das Urteil von zwölf Jahren Gefängnis mit Gelächter aufgenommen hatte, und dem, der mir gegenüber saß – dem bleichen, verdreckten, furchtsamen Mönch, dessen Augenlider zitterten und der mit dem irrenden Blick jener Menschen geschlagen war, die den Tod schon sehen – gab es keine Gemeinsamkeit mehr. Der einstige »Satanic Philosopher of Darkening« hatte sich verwandelt in ein angstgeschütteltes, höllenfürchtiges Wesen, erfüllt von einem geradezu mittelalterlichen Katholizismus.
Weitere Kostenlose Bücher