Die Nacht der Haendler
vermissen. – Oder? – Sie haben sie ihm doch geklaut, Heinrich? Er war betrunken, und Sie haben ihm die DVD aus der Kutte gezogen, nicht wahr? Nachdem er im Suff das Passwort ausgeplaudert hatte! – So war es doch?« Noch heute denke ich gern an jenen Augenblick zurück, in dem mein Schweigen den Großen Antimago ratlos machte. Ich nahm die DVD und verließ den Speicher. Hinter mir hörte ich Reeper brüllen. »He, kleine Ratte Zukunft! Du wirst verlieren! Alles!« Ich lief die Treppen hinunter, durchquerte die dunkle Halle, trat ins Freie, atmete durch. Nur mit Mühe beruhigte ich mich. Mochte Reeper auch geblufft haben mit seiner Behauptung, er könne speichern, was in meinem Kopf ablief – eines war sicher: Sein Programm, mit dem er digital Bilder montieren konnte, war eine Software auf dem neuesten Stand: FANTANIMA war ein Animationsprogramm, das keinen menschlichen Bediener brauchte, um zu arbeiten; es war in der Lage, sich aus anderen Bildprogrammen sowie Fernsehsendungen oder Satellitenübertragungen fotografische Dokumente zu holen oder von diesen mit Dokumenten beschickt zu werden, und daraus entweder nach Vorgabe oder eigenständig nach unzähligen ästhetischen und logisch-räumlichen wie logisch-zeitlichen Parametern in aleatorischer Folge neue Bilder zu montieren, die es dann dem Betrachter oder einem dritten Programm zur Begutachtung anbot, wiederum vernetzte und so lange bearbeiten konnte, bis es dem Betrachter unmöglich war, echt von falsch zu unterscheiden. Dabei lernte das Programm, je häufiger es benutzt wurde, um so mehr von der eigenen Phantasie und konnte darum, je länger es in Gebrauch war, um so ungeheuerlicher fälschen. Real erscheinende Situationen, Traumbilder, surreale Kollagen – nahezu jede Form von Faking beherrschte das Programm aus sich selbst heraus und spielte die Ergebnisse je nach Anforderung weiteren Programmen oder Aufzeichnungsgeräten zu. Nur so hatte Reeper, der ja selber ein Programm war, mir den Japaner Jatsu Tsin im Flugzeug vorführen können. Woher aber verfügten vor fast einem halben Jahrhundert angelegte Festplatten über diese autonome Bildkompilation FANTANIMA , die erst vor zwei Jahren entwickelt worden war, mit der ich gerade erst zu arbeiten gelernt hatte und deren enorme Entlastung der menschlichen Vorstellungskraft mir selbst noch immer wie Zauberwerk vorkam? Dschejdschejs Sätze am Vorabend meiner Abreise aus L. A. kamen mir wieder in Erinnerung: »Keiner weiß, wie weit die Vernetzung des Antimago-Programms reicht, Heinrich. Keiner weiß, ob seine Programme veraltet und einigermaßen ungefährlich oder aber upgedatet sind. Sicher ist nur, dass er sich im weltweiten Netz ausgebreitet hat wie eine elektronische Flechte, ein wucherndes Gespinst, dessen Fasern weiß Gott wohin reichen. Erinnerst du dich an die Meldung, vier, fünf Monate ist es her, dass das gesamte Bildarchiv der Time-Life -Gruppe plötzlich in den Rechnern nicht mehr auffindbar war? Sie hatten Glück, ungefähr 75Prozent konnten die Experten irgendwie reaktivieren. Trotzdem ging der Schaden in die Millionen … Jetzt stell dir mal vor, so etwas ähnliches passiert mit dem Filmarchiv von NBC oder BBC oder ABC ? Oder mit den digitalisierten Beständen der National Library ? Oder der Kartei der UN-Police ?« An die Bestände der Chase-Manhattan-Bank hatte Dschejdschej noch nicht gedacht …
Im letzten Licht des Tages, das auf dem See seine zinngrauen Reflexe fand, sah ich Anna und Stieftaal als schwarzen Schattenriss im Fährkahn dem Inselsteg zusteuern und anlegen. Sie luden Gepäckstücke aus, und als Stieftaal sie den Weg heraufgeschleppt hatte, erkannte ich meinen Koffer und meine Reisetasche. »Wir haben Sie im Hotel abgemeldet«, sagte Anna, »die Rechnung ist bezahlt.«
11
DIE LANDSCHAFT tröstet nicht mehr. Sie können nicht empfinden, was das bedeutet. Ich hatte eine unglückliche Nacht mit Charisia. Nein, keine ungelungene – in unserem Alter bewertet man nicht mehr. Wir lagen unter einem Netz aus Sorge gefangen, Giaccos Sterben als kalte Schwärze zwischen uns. Und so eng wir unsere Körper auch aneinanderlegten, es blieb ein Abgrund. Als hätten wir all die Jahre nur so unbeschwert erleben können, weil wir glaubten, dass Giaccos junges Dasein uns immerfort begleiten würde.
Heute morgen verließ ich leise Charisias Haus. Sie schlief endlich. Ich stand auf meiner Terrasse, die Hunde drückten sich an meine Beine. Ich fror in der Nebelluft, kreuzte meine Arme vor der
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