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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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hätte erkennen können. Sie sehen, Herr Minister, ich habe auch hier meine Gewährsleute für die Einschätzung der nahenden Verwirrung
    – und ich nehme sie ernst. Wenn Klaus-Peter Weihrich sich seine Lebensversicherung vorzeitig auszahlen lässt, klingeln bei mir die Alarmglocken – im Vergleich zu Ihren Haushaltsproblemen sind das freilich Kleinigkeiten. Doch Weihrichs gibt es millionenfach. Ich versuchte, Charisia die Bedeutung des Vorgangs zu erklären: Wenn zehn Million Weihrichs sich ihre Lebensversicherung von jeweils 1ooooo Euro auszahlen lassen, ist das bereits 1 Billion … Unbeeindruckt von der Summe fragte sie: »Aber warum will er sich noch eine Wohnung kaufen? Warum bleibt er nicht einfach hier, hört seiner Frau zu und hilft bei der Olivenernte? Die fünfzehn Jahre, die er vielleicht noch hat, sind hier doch länger als dort!« So denkt Charisia, und auch dafür liebe ich sie. Sie aber tragen Verantwortung für das Glück von Milliarden Giaccos und Weihrichs! Ich überblicke das nicht, ich stelle es mir entsetzlich vor, so mächtig und so ohnmächtig zugleich zu sein; ich wäre schlaflos. Damals in Falling hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben die Ahnung von einer Last, der ich mich nicht gewachsen fühlte. Die Vorstellung, von meiner Geschicklichkeit könne möglicherweise nicht nur abhängen, ob die gigantischen Bildbestände in den Archiven der Welt erhalten blieben oder zerstört würden, sondern auch, ob es künftig überhaupt noch Geld geben werde, fand ich unerträglich. Ich weigerte mich, darin meine Pflicht zu sehen und beharrte eigensinnig darauf, mit dem Großen Antimago in ein vielleicht gefährliches Spiel verwickelt zu sein, bei dem es aber allenfalls um meine kleine Existenz ging. Ich hatte durchaus vor, zu gewinnen. »Zerstöre ihn nicht«, bat Anna. »Auch wenn ich weiß, dass er tot ist und im Hain unten in seinem Grab liegt – ich habe doch das Gefühl, ihm näher sein zu können, solange er in seiner Computerwelt vorhanden ist.« Sie war zu mir gekommen, an jenem Abend, an dem Stieftaal mein Gepäck auf die Insel gebracht und mir erklärt hatte, mein Aufenthalt im Fallinger Kurhotel sei zu riskant für mich geworden. Ich sah ihm an, dass er krank war. Seine Augäpfel traten prall aus dem Schatten ihrer Höhlen hervor, sie waren gelblich, von schwarzen Äderchen durchzogen; sein Gesicht blutleer, die Haut von grauer Blässe, schlaff, als sei sie kaum mehr mit dem Schädel verbunden. Er aß nicht mit uns zu Abend. Anna ging wortlos mit mir die Treppe hinauf, trat hinter mir ins Zimmer, tastete nach dem Bett, setzte sich, zog sich aus und legte sich unter die Decke. »Vergessen Sie bitte nicht, das Licht zu löschen. Ich ertrage es nicht.« Ich sah ihr von den roten Locken gerahmtes weißes Gesicht auf dem weißen Kissen, ihre lichtlosen Augen, die sich zu den Geräuschen hin bewegten. Zu meinen Schritten. Meinen Kleidern. Ich ging zum Lichtschalter. Sie schloss die Augen. Ich schaltete mehrmals aus und ein. Ich betrog sie. Unterm Licht der Deckenlampe legte ich mich zu ihr. Sie griff nach meinen Schultern, ließ mich ein. Und als sie mich berührte, fühlte ich mich beobachtet. Nie zuvor und niemals danach hat eine Frau mich mit ihren Händen und ihrem ganzen Körper sehen wollen. Ihre Haut bestand aus Augen. Sie betrachtete mich mit Hautblicken, stumm und begierig, aber ohne Erregung, ohne Freude; als trüge sie in der Mitte ihrer Seele ein Schwarzes Loch, dessen ungeheure Gravitation alles Licht in sich hineinschlang und vernichtete. Kein heller Augenblick, den sie spüren durfte. Kein Lächeln, dem die Zeit belassen blieb, sich in ihr zu spiegeln. Der Trauerschlund war unersättlich, Annas Hunger nach Berührung ungestillt, weil alles Licht der Welt nicht gereicht hätte, ihr den Schatten auszutreiben. Ihr Atem wurde ruhig, und sie schlief ein. Im Traum jagte ich einem fahrerlosen Motorrad nach, das über einen zugefrorenen See fuhr. Während ich auf einem Schlitten hockend die Verfolgung aufnahm und mich mit Messern in beiden Fäusten von der Eisfläche abstieß, entfernte sich das Motorrad immer weiter; immer wütender stieß ich die Klingen ins Eis, langsam gewann der Schlitten an Fahrt, das Motorrad kam wieder in Sichtweite, es schlingerte, schweifte in größeren Schleifen seitwärts aus, ich kam näher, es kippte und schleuderte auf seiner linken Seite über die weiße Seefläche, und als ich es auf meinem Schlitten erreichte, schmolz es sich selbst durch die

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