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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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offene Holzkiste enthielt. Er ließ sich langsam auf die Matratze nieder, streckte sich und zog die Decke über seinen Leib. Er drehte mir den Kopf zu und deutete auf die Kiste. »Da ist ein Papier, das nehmen Sie bitte an sich, lesen Sie es, Sie verstehen dann, warum ich Reeper so hasse, dass es mich selbst zerfrisst. Er hat mir nicht nur meine Frau und meine Tochter genommen. Ich habe an ihn geglaubt. Ich habe wirklich an ihn geglaubt. Er hat uns alle nur benutzt. Mich. Seine Ideen. Unsere ganze Bewegung. Lesen Sie unser Manifest. Das war die Wahrheit! Er hat sie verraten.« Ich sende Ihnen, verehrter Minister, jenes Dokument nun zu. Ich habe es all die Jahre mit mir geführt. Wenn Sie so wollen, als beständige Mahnung an mich selbst, mich durch einleuchtende Parolen nicht mehr in die Irre führen zu lassen. Alles spricht dafür, dass der Text von Reeper selbst entworfen worden ist.
    Réalité! Vérité! Félicité!
    Der Antimago liebt Euch!
    Hört, Freunde, lest! Sind wir alle verrückt geworden? Wissen wir nicht mehr, was geschieht? Haben wir keine Augen mehr, keine Nase, keine Fingerkuppen, keine Fußsohlen, kein Herz, keine Ohren? Ist uns alles abhanden gekommen, womit wir geboren werden und anfangen zu leben? Habt ihr vergessen, wie das Gesicht eurer Mutter aus dem Licht wuchs? Wie eure Hände nach ihrer Brust tasteten? Wie eure Füße die Erde spürten und das Gleichgewicht suchten? Oh, ihr Vergesslichen! Euer Kinderlachen über den Gesang der Vögel, euer Erstaunen über die hohen Kirchtürme, die Autos, eure Freude über die spielenden Hunde, die Katzen! Eure Entdeckung des Wassers! Der duftenden Blumen! Euer Deuten auf den Mond! Euer Lauschen auf das Ticken der Uhr und die Stimme des Vaters! All dies vergessen? Eure Lust, zu reisen? Eure Liebe, die Erregung, die Trauer? Den Geruch der Nacht und den Anblick von Ebbe und Flut? Wer seid ihr? Tote, deren Haut kalt und empfindungslos geworden ist? Deren Gehirn wie eine schmierige Masse vor sich hin fault? Deren Zunge, statt zu reden, im Gaumen hockt wie eine schlafende Kröte? Deren Ohren so vollgedröhnt sind von elektrischen Geräuschen, dass ihr nicht mehr vernehmt, wie der Wind sich hebt und legt? Ihr lebt doch! Ich weiß, dass ihr lebt! Dass ihr Träume habt! Sehnsucht! Eure Haut will ja, ich weiß es, Berührung! Eure Augen wollen in anderen Augen den Widerschein eures Glücks sehen! Ihr wollt doch atmen! Riechen! Singen! Aber was tut ihr? Freunde, was tut ihr? Mit vergorener Seele sitzt ihr da, wagt keinen Schritt, lasst euch die Welt ins dumpfe Zimmer senden und glaubt auch noch, dass, was ihr anseht, euer eigenes Erlebnis sei! Und eure Kinder liegen, so wie ihr selbst, vor der Fälschung der Welt mit offenem Mund und taubem Kopf, ausgestreckt wie die Geschlagenen einer großen Feldschlacht ihr, die betrogenen Betrüger, eure Kinder Betrogene, bald auch Betrüger, und so geht eure Niederlage in einem fort! Wisst ihr nicht mehr, dass es außer dem einen elektrischen Fenster zur Welt des Scheins noch ein wirkliches Fenster gibt in eurem Zimmer, und vor diesem Fenster eine ganze wirkliche Welt? Dass »Windows« keine wirklichen Fenster sind? Wisst ihr nicht mehr, dass ihr nur die Tür öffnen und einen Schritt hinausgehen müsstet, um wieder zu wissen, dass da eine Welt ist, die sich begreifen lässt? Und die erhalten werden muss , weil es im erreichbaren Raum um uns keine zweite lebendige gibt? Aber kaum steht ihr draußen, hebt ihr die Fälschungsgeräte vor euer Auge, die Linsen, die alles auf den Kopf stellen, die Filme und Magnetbänder, die Chips und DVDs, die sehen, was ihr nicht seht, die speichern, was euch entgeht! Denen ihr alles überlasst, was euch gehören könnte! Erinnerungen nennt ihr, was ihr dann immer wieder betrachtet. Aber euer Kopf ist leer. Und eure Fotodiscs sind voll. Eure Augen sind schwarze Wüsten, und eure Festplatten sind voller Gärten. Darum vertraut ihr den eigenen Augen nicht mehr, den Gefühlen nicht, darum glaubt ihr am Ende nur noch, was auf den Bildern ist! Lauter festgehaltene Augenblicke, die falsch sind. Denn die Wirklichkeit ist ein Fluss, und ihre unaufhörliche Veränderung könnt ihr nur in euch selbst entdecken, nicht auf den Bildern! Aber so dumm seid ihr nun geworden, so klein im Geiste, so von Stillstand zu Stillstand hinkt ihr durch die zweite Welt, die euch wichtiger geworden ist als die erste, in die jeder von uns geboren wurde! Jeder, dem das Augenlicht fehlt auf unserer Erde, sieht mehr als ihr! Nun

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