Die Nacht der Haendler
Bestätigungen nach Zürich, verwaltet seine Bankkonten, schichtet sie um, verwischt seine Spuren. Er kann sich aus seinem Programm heraus über Compusec neues Bildmaterial bestellen und tut das. Für die Welt in den Computern der Welt ist er tatsächlich noch am Leben. Mit jedem Monat hat sich sein Datennetz weiter gespannt, mit jedem Tag hat er sich weiter hineingefressen in andere Netze irgendwo auf der Welt. Die einzige Chance, die wir haben, ist, ihn selbst zu löschen. Hier in seinem Speicher. Ich habe keine Ahnung, wie das geht. Er hockt in seinen Rechnern wie die Spinne im Netz. Man muss mitten hinein, um ihn zu zerquetschen. Aber der Weg dorthin – meine Güte. Ich empfehle keiner Mücke, auf gut Glück ins Zentrum eines Spinnennetzes zu fliegen. Und trotzdem muss es geschehen. Für mich muss es geschehen. Oder für die Welt. Reden Sie mit ihm. Ich habe es jahrelang versucht. Er weiß, dass ich sterbe. Er ist gewissermaßen ungeduldig geworden, und Dschejdschej und ich sind uns einig, dass er demnächst zuschlagen wird mit seiner ›Rettung der Welt‹. Wissen Sie, was es heißt, wenn die Bildnachrichtensysteme der Welt zusammenbrechen? Wenn die Bildervorräte schmelzen? Wenn der Weg der ganzen Menschheit in die Bilder plötzlich abgebrochen wird? Das ist so, als hätten Sie im vorletzten Jahrhundert den Menschen die Sprache und die Schrift geklaut. Dschejdschej nennt es ›Das Ende der Zivilisation‹ … Und Reeper will genau das. Nach den Bildern wird er sich das Geld vornehmen. Sind erst die Bilder vernichtet, braucht er kein Geld mehr. Er ist vollkommen skrupellos. Als Programm noch skrupelloser, als er als Mensch war. Nur Anna gegenüber hat er sich Rücksicht einprogrammiert. Nicht etwa Liebe. Anna ist als versorgungswichtige Information gespeichert. Gewissermaßen als Verwandtschaft. Versuchen Sie nicht, ihn bei Gefühlen zu packen. Er hat keine. Sie müssen direkt zu ihm vordringen, mitten in das Dokument EGO . Wenn Sie gut sind, wird er sich verraten. Wenn nicht, dann gnade Ihnen Gott. Im Hotel ist ein japanischer Gast namens Jatsu Tsin angekündigt. Er gehörte zum Innersten Kreis des antimagistischen Tribunals. Ich kenne ihn. Der Hotelmanager ist sein Bruder. Nichts hält ihn auf. Auch Dschejdschej wird kommen. Der kluge Verräter. Ich fürchte, zu spät.« Er schwieg, starrte an mir vorbei oder durch mich hindurch in die Vergangenheit oder auf die Leere, die ihn ängstigte. Sein Blick kehrte zurück. Stieftaal hob sein Glas, trank es leer, hielt die Flasche gegen das Licht, setzte sie an seine Lippen und trank den Rest aus. Rinnsale aus Rotwein zogen sich von seinen Mundwinkeln zum Kinn. »Noch etwas müssen Sie wissen, Heinrich. Wenn Sie mit Reeper reden, muss Ihr Kopf vollständig leer sein. Sie dürfen nichts denken. Sie dürfen nicht an andere Menschen denken. Sie dürfen nicht daran denken, was Sie Reeper verheimlichen wollen. Er speichert über die Kameras und Mikros nicht nur alles, was hier auf der Insel vorgeht und gleicht es mit seinem Datenbestand ab. Er sieht nicht nur, was Sie tun. Er hört nicht nur, was Sie reden. Er misst über Sonden alles in seinem Zentrum, alles, was in Ihnen vorgeht.
Sobald Sie sich auf dem Dachboden befinden, werden Ihre Gehirnströme gemessen und analysiert, er frisst Ihre Gedanken und baut sie in sein Programm ein! Denken Sie meinetwegen an Berge und Meer, an Blumen und Filme und Bücher und Autorennen oder Erdbeben. Aber riskieren Sie keine Erinnerung, die er verwerten könnte!« Ich will Sie nicht länger aufhalten mit technischen Einzelheiten, die Stieftaal mir geduldig erläuterte und die ich dennoch nicht nachvollziehen konnte. Vieles, was er erzählte, schrieb ich seiner fiebrigen Phantasie zu. Seinem selbstzerstörerischen Hass auf den Großen Antimago. Dem Wein. Der Verwirrung des Alters. Er blickte ja schon über den Zaun nach vorn in den Tod, und so mochte seine Sicht auf das hinter ihm liegende Gebiet seines Lebens getrübt sein, sei es durch das Gefühl des Abschieds, sei es durch den Nebel, der sich mit den Jahren über unsere Erinnerung legt, sie verzerrt und verblassen lässt. Er fand nicht mehr allein zurück in sein Zimmer im Erdgeschoss, ich führte ihn und sah zum ersten Mal, dass er in einem fast leeren Raum lebte, an dessen Fensterwand eine Matratze und eine Pferdedecke auf dem Steinboden lagen, und der sonst nur noch ein Kruzifix über der Tür, eine vom Plafond baumelnde Glühbirne und in der Ecke neben Stieftaals Lager eine rohe,
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