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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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verrottet die wirkliche Welt, das Wasser verdirbt, die Luft ist vergiftet, ihr aber klammert euch an die Bilder, die reinen, schönen, geruchlosen Bilder einer längst zerstörten Welt!
    Auf einmal werdet ihr dasitzen und nicht mehr wissen, dass es vor den Bildern eine Welt gab und vor der Welt einen Gott , und dass es eine Sünde war und ist, sich ein Bild zu machen! Habt ihr denn ganz vergessen, warum es Menschen gab, die glaubten, ihr Gesicht werde gestohlen, wenn man sie fotografierte? Hatten sie nicht recht? Oh, sie hatten recht, sage ich euch. Aber nicht nur Gesichter werden geraubt! Jedes Bild von der Welt stiehlt ein Stück Wirklichkeit! Die ganze zweite Welt, die in unseren Schubladen und Schränken und Archiven liegt, die gespeichert ist und täglich neu gespeichert wird, ist nichts anderes als die Beute von Dieben, Wirklichkeitsdieben, die gefräßig und bildgierig sind wie ihr selbst seid. Die Diebe der Realität stehlen das Licht, sie verwandeln die Gegenwart der Schöpfung in eine fotografische Vergangenheit. Und dann verwandeln sie die Bilder ! Manipulieren sie nach ihren Zwecken, bauen virtuelle Welten auf, in denen ihr Blinden umherirrt und meint, das sei nun das freieste Leben, das sei die Rückkehr ins Paradies! Geht vor die Tür, geht hin in die Slums, die Favelas, die Bidonvilles, wo unsere Schwestern und Brüder vegetieren, wo Kinder stumpf und ohne die Aussicht auf Glück alle Gedanken auf das ärmliche Überleben ausrichten müssen: Und überall da, zwischen Pappe und Plastik und Wellblech, wo die Menschen in ihren Exkrementen hocken und keine Aussicht haben, ihre wirkliche Lage zu ändern, überall da, wo Nahrung, Kleidung, Wasser fehlen, werdet ihr ein Fernsehgerät finden. Da sitzen die Ärmsten, die Vergessenen der Welt, vor den zweiten Welten, den Villen mit Parks, den goldenen Armaturen in Marmorbädern, bestaunen die blitzenden Limousinen vor der Tür und haben doch selbst nicht einmal die Chance, die Wagen dort waschen zu dürfen … Was aber sehen sie, frage ich euch? Sie sehen das Paradies! Sie sehen ihren Traum vom Glück. Sie sehen überall denselben Traum, in Indien und Brasilien, in Angola und China, in Afghanistan und im Kongo. Ihre eigenen Paradiese haben sie verloren, ihre Götter und Religionen. Ihre Märchen haben sie vergessen. Ihre Mythen sind verweht. Ihre Göttergeschichten wurden zu Filmen. In jeder Hütte, auf jedem Dorfplatz starren die Menschen im Fernsehen ihre Götter an. Sie zünden Kerzen an vor dem Bildschirm, sie werfen sich zu Boden und beten, wenn eine Schauspielerin mit dem Namen der Göttin auftritt – aber zur selben Zeit sind die Pagoden und Kirchen und Tempel leer.
    Hört und seht, Freunde: Wir verlieren die Welt! Ihr glaubt, wir verdoppeln sie. Ihr glaubt, wir fügen der ersten eine zweite Welt hinzu. Aber ich sage euch: Wir werden vor den Bildern des Himmels sitzen, wir werden die Atmosphäre auf den Festplatten unserer Computer gespeichert haben und auf einmal bemerken, dass wir nicht atmen können, was da kopiert ist! Also werden wir selbst uns verwandeln müssen zu Bildern, damit wir hineingehen können in die gespeicherten Welten, wir werden das erste Leben, das uns geschenkt ist, aufgeben müssen für ein zweites – wir werden sterben und dabei glauben, das ewige Leben erlangt zu haben; nicht mehr als Menschen, sondern als eine Summe elektrischer Impulse aus Ja und Nein und Eins und Null … Denn nur als virtuelle Wesen können wir virtuelles Wasser trinken und virtuelle Luft atmen.
    Ich sage euch: Dies ist nicht das ewige Leben, dies ist der ewige Tod. Keine Hungersnot, keine Seuche, keine Sintflut und kein Krieg waren je so grausam wie die große Verwirrung, in der wir jetzt leben! Indem wir die Welt abbilden, zerstören wir sie. Indem wir uns selbst abbilden, zerstören wir uns. Ich weiß nicht, welcher Teufel uns so weit gebracht hat. Aber er steht kurz vor seinem schrecklichen Sieg. Er hat uns die grausamste aller Waffen in die Hand gegeben: das Abbild. Und wir haben es angenommen, dankbar wie Kinder. Diese Waffe, meine Freunde, ist verheerender als alle Wasserstoffbomben. Denn diese vernichten die Wirklichkeit, wie Gott sie schuf. Das Bild aber vernichtet die Wirklichkeit in uns selbst . Wollt ihr dem weiterhin tatenlos zusehen, wollt ihr eure Seelen weiter in die Computer führen lassen wie die Lämmer zur Schlachtbank? Noch ist Zeit, Freunde! Darum hat die Geschichte mich aus meiner kleinen unwürdigen Existenz erhoben zum ANTIMAGO, der

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