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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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hatte jenen rötlichen Stich, der sich im Mahagoni Ihrer Fußumlederung wiederfand; Dschejdschej nannte Sie in Paris (natürlich nur hinter Ihrem Rücken) den »Cognac«, und zwar mit Respekt, denn Sie seien oben hell und leicht (das war Ihr Haar), dann breit und kräftig (Ihre Schultern), unten tief und dunkel (Ihre Hosen und Schuhe) und in der Mitte (das nussbraune Kaschmirjackett) von »edler Weite« … Aber ich bitte Sie, Mr. Cognac, sich vorzustellen, dass man in meinem Dorf eher Grappa schätzt, und zwar jungen, harten, weißen Grappa, und dass Menschen Ihrer Art hier nur unnötig Aufsehen erregen. Ich wüsste auch nicht zu sagen, wozu Ihre Anwesenheit im Augenblick dienen sollte; vielleicht später einmal, aber noch wären Sie hier ganz überflüssig. Oder gar störend, denn die Phantasie in Pantasina ist bei Giacco und seinen himmlischen Motorradfahrten, fast alle hier erträumen sich seine Rückkehr ins Leben. Allen hat er schon Post gebracht. Er war der junge Engel des Zufalls. Nicht, dass ich Sie nicht gern sprechen würde, doch fürs Erste ist es mir lieber, wir bleiben in der bewährten räumlichen und zeitverzögernden Distanz unserer Briefe. Wenn Sie dennoch kommen wollen, werde ich nicht da sein. Ich bin jetzt fast jeden Tag in der Klinik bei Giacco – darum werden die Briefe wohl etwas länger brauchen.
    Sie sehen, auch ich wäge ab – zwischen Giacco und der Welt, die nach der Rettung des Geldes schreit. Ich ziehe die Welt dem Geld vor. Und Giacco der Welt. Ich sitze an seinem Bett, erzähle ihm vom Meer, von den Eidechsen, vom Wind und von meinen Hunden. Ich vermute, er hört mich. Manchmal sitze ich mit dem Rücken zu ihm an dem kleinen Tisch unter dem Fenster seines Krankenzimmers und sehe hinaus auf die Uferstraße, das Stückchen Sandstrand zwischen den Palmwedeln und Pinienschirmen, die Buden, die wenigen, fast lautlosen Autos. Darüber das Meer, das eine dunkelgrüne Linie vom Himmel trennt. Ich kann das Panikgeschrei an den Börsen hören, die Chefetagen der glänzenden Bankpaläste mit den fassungslosen Spitzenversagern sehen, ihre hektischen Gespräche, ihre Flüche und ihre depressiven Gesten, ich sehe die Schlangen verzweifelter, nicht einmal murrender Menschen vor den Schaltern im Erdgeschoss, und manchen sehe ich darunter, der hier noch steht, obwohl er sich längst aufgegeben und den Entschluss zum Sturz aus einem hoch gelegenen Fenster gefasst hat. Und dann schweigen in mir die Schreie, die geduckten Menschen verblassen, und ich sehe wieder das Meer, ruhig und so hoch, dass es eigentlich bis hierher ans Fenster schwappen müsste. Ich könnte hier, denke ich, still sitzen, bis Giacco sich aufrichtet, sich die Schläuche abzupft und sagt »Gehen wir heim«. Und ich würde ihn auf meinen Händen nach Hause tragen. Warum schreiben Sie mir nicht einen Brief über den Himmel von Chicago? Waren Sie in jüngster Zeit auf dem Sears Tower? Ich erinnere mich gern an meine Reise mit Dschejdschej, der vermutlich zu einem Treffen des antimagistischen Führungskaders nach Chicago musste und mich freundlicherweise mitnahm. Ich ging viel spazieren und fühle noch immer das Fußkribbeln in den gläsernen Fahrstühlen. Gibt es sie noch, die Lichterkette der Flugzeuge im violettgrauen Abendhimmel, die in abfallender Linie wie dicht gereihte leuchtende Perlen auf einer Himmelsschnur dem Flughafen entgegen sanken? Oder ist der amerikanische Fluglinientrust pleite? Blitzt das Straßengitter noch auf, wenn die Sonne tief und oval auf dem Horizont liegt wie ein blutiges Auge? Oder sehen Sie all das nicht mehr, ist Ihr Augenhintergrund mit Dollarnoten tapeziert, deren Verfall Sie fürchten wie eine Netzhautablösung?
    Ihnen zuliebe springe ich zurück in Annas Fallinger-Gewächshäuser. Das Geld? Natürlich dachte ich seit jenem Dokument Réalité! Vérité! Félicité! auch an das Geld. Aber ich ahnte noch nicht, wie weit der philosophisch unterfütterte Weltveränderungswahn Reepers reichen würde! Werden Sie mir folgen? Ich warne Sie, denn ich kenne mich selbst, ehrlich gesagt, in diesen Gebieten meiner Vergangenheit nur noch in bestimmter, besser gesagt unbestimmter Weise aus: Ich kenne die Bilder und Erfahrungen – aber ich weiß nicht mehr zu sagen, in welcher Realität sie angesiedelt sind. Es handelt sich um das Problem der rückwärtigen Vergewisserung. Ach, ich sehe Ihre Miene: Sie halten diesen Brief in der Hand, stöhnen und wenden sich den Fernsehnachrichten zu. Das wird Sie nicht retten. Sie

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