Die Nacht der Haendler
werden, verehrter Cognac-Minister, weiterlesen müssen. Giacco wird leben, wenn Sie im virtuellen Koma liegen. Wollen wir uns darauf einigen? Okay. Annas Gewächshäuser also, die sie ihr »Paradies« nannte. Die Fahrt über den See. Der Steg, auf dem ich Anna zum ersten Mal gesehen hatte. Wie viele Tage war das her? Am Ufer entlang im Frühlicht nach Falling, dessen Dächersilhouette sich, je näher man kommt, um so weiter zur Südspitze des Sees zu entziehen scheint. Dem Kirchturm sind wir nachgelaufen, Anna bei mir untergehakt, schweigend, bis die ersten Gassen erreicht waren, die Rasenflächen des Kurparks und seine weißen Wege mit den keuchenden, ihren Schmerz ausstellenden Nieren, Herz- und Wirbelkranken. Einige grüßten Anna und betrachteten mich mit dem lauernden Blick, der auf eine Änderung im ewigen Gleichlauf der Kur spekuliert. Am anderen Ende des Ortes, wo er ausfranst in eine sanft gewellte, vom Tal des Flüsschens Fell durchwundene Gegend, deren größter Teil damals durch einen Golfplatz verödet war, wandte sich Anna den Bergen zu und entzog mir ihren Arm. Vor dem Massiv des großen und des kleinen Fallinger Horns, in dessen Schrunden und Kaminen noch Reste der Nacht hingen, glänzten die langgestreckten Glashäuser wie versetzt hintereinander gelegte Barren aus Silber: Annas Paradies, die stille, würzig und nach feuchter Erde duftende Heimstatt ihrer Kräuter, Salate, Gemüseköpfe und Wurzeln. Anna unter Glas, zur Herrin verwandelt.
Wenn mich Antonio zu Giacco hinunterfährt, nach Imperia, vorbei an den Blumengewächshäusern von Dolcedo, die sich wie ganze Städte aus Glas die Berghänge hinaufziehen, denke ich oft an die schöne Ordnung in Annas Paradies-garten, wo fast alle pflanzliche Kost für die Fallinger Hotelgäste gedieh. Hier fand sich die Blinde zurecht wie eine Katze in der Nacht. Ich erinnere mich an die Sicherheit ihres Gangs im Unsichtbaren. Als riefen ihr die Pflanzen Kommandos zu. Sie strich mit der Hand über die Blätterbüschel, wie man Kindern übers Haar streicht, sie sprach, nein, sie bewegte die Lippen, als habe sie hier keine Stimme, sie nickte manchmal wie nach empfangenen Grüßen, sie schüttelte den Kopf vor Lorbeer, Rosmarin, Thymian, als hätten sie nach ihrer Zukunft gefragt. Zielsicher lief sie durch die Gassen, zählte wohl still die Kreuzungen, fand ohne Zögern die Glaskorridore zwischen den Häusern, bewegte sich unfassbar schnell, hielt sich nie zur Orientierung auf, stieß an keine Ecke der in Hüfthöhe angelegten Beete und Wannen mit Töpfen und Trögen, bediente die Schalttafeln für Bewässerung und Belüftung, ohne dass ihre Finger auch nur einmal gezögert oder sich an einen der vielen Knöpfe herangetastet hätten. Anna musste eine perfekte Struktur der ganzen Anlage in sich tragen, und zwar nicht nur der Wege und der Stellen für Arbeitsgerät und Eimer und Körbe, sondern jeder Pflanze, jedes Stecklings. Unvorstellbar für einen Sehenden, wie dieser innere Plan beschaffen war – Anna hatte ja nie in ihrem Leben eine Pflanze erblickt, ganz zu schweigen von einem Gewächshaus, einer Schaufel, einem Blumentopf. Um sich hier, wo kein Geräusch, kein Wort ihr half, zurechtzufinden, konnte sie ihre Umgebung nur spüren und riechen und musste in sich eine Art Muster mit diesen Sinnen erstellt haben, das eine Übersetzung der Gewächshäuser in eine andere, für Augenmenschen unsichtbare Form darstellte. Dennoch schien mir, dass in der Stille ihres Paradieses der Hauptsinn, mit dem sie sich so fehlerlos orientierte, ihr Gehör war. Manchmal neigte sie den Kopf über die Reihen der Gemüsepflanzen und wandte ihnen ihr Ohr zu, lächelte oder wartete, als ob Radicchio und Chicorée, Lauch, Brokkoli und Mangold ihr Geschichten erzählten, in denen vom Leben des Bodens, von Licht und von der Nacht die Rede war, einer vegetarischen Konversation, von der ich ausgeschlossen blieb. Außer dem tiefen Summen, das vom Maschinenhaus herüber drang, und dem leisen Glucksen in den Sprinklerohren und unterirdischen Düngerleitungen hörte ich nichts und fühlte mich plötzlich wie ein Blinder. Ihre zärtliche Pflanzenkommunikation hinderte sie freilich nicht daran, ihren Gesprächspartnern den Kopf abzuschneiden oder sie aus dem Mutterboden zu reißen. Sie erntete mit unnachgiebigen Schnitten. Präzise und schnell. Sie zog Rüben und Knollen, rupfte Rapunzel, trennte Wirsing vom Strunk und handhabte das Messer so flink, dass ich mich zwingen musste, nicht
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