Die Nacht der Haendler
erhielt die Meldung, dass kein entsprechendes Dokument vorhanden sei, fragte nach St. Jakobus , ebenso erfolglos, und erinnerte mich schließlich, dass Reeper von Cabo Fistera gesprochen hatte, dem spanischen Weltende des Mittelalters, wo die Gebeine des Apostels angeblich ausgegraben worden waren. Jetzt fand der Rechner, was ich suchte.
Mit der Meldung, dass das Programm FANTANIMA geladen werde, legte ich mir den Helm zurecht, bei den ersten Bildern der Stadt gab ich das GO-IN ein und stülpte mir das etwas altertümliche Modell über. Mir war noch, als hätte ich Reeper lachen hören. Dieses metallisch unmenschliche und doch sehr menschlich hämisch klingende Gelächter eines Mannes, das eine gewisse Ähnlichkeit mit der unerträglichen Zwischenlage eines Tritonus hatte – oder war es das Gemisch aus Autohupen und Betgesängen, war es das Klappern vieler Schuhe auf dem Pflaster – waren es die Eisenspitzen der Jakobusstöcke? Das Gemurmel der Pilger? War es der Regen an den Scheiben der verglasten Balkone, die ich über mir an den Hauswänden sah?
Regen am Cabo Fistera, dem Kap Finis terrae. Galizischer Regen. Mit einem Mal wusste ich alles: »In der nassen Nordwestecke Spaniens, am Ende der Welt, hält sich die heilige Stadt des Apostels Jakobus, Santiago de Compostela, treu an die Niederschlagsstatistik.« Wo hatte ich diesen Satz gelesen? Ein Programm? Was für ein Programm? Ein Reiseprogramm, was sonst. Warum war Liliane im Hotel geblieben? Ihr war nicht gut, natürlich, wie so oft, die Muscheln gestern Abend, oder sie bekam ihre Tage. Speckig glänzen die Granitgassen, die zur Kathedrale ansteigen, kleine Bäche laufen in den von Pilgern ausgetretenen Rinnen hinunter, schwappen in die Gewölbegänge, sammeln sich auf tiefer gelegenen Straßen und umspülen den stockenden Autoverkehr, bevor sie ölschillernd in die Gullis gurgeln. Seit wie vielen Tagen dieser Regen? Oder sind es schon Wochen?
Oben, wo nach der engen Altstadt die Plätze sich öffnen wie Himmelsspiegel, fällt durch ein Wolkenloch Licht auf die Türme der Kathedrale, ich kann ihre gedrechselten Simse und verzwirbelten Balustraden sehen. Nicht schön. Ocker leuchtet die Barockfassade Obradoiro von Erkerchen zu Säulchen, nur die Seite der Platerias, der Silberschmiede, strahlt die Ruhe und Sicherheit des romanischen Grundbaues aus. Welch ein Menschengedränge! Die Fähnchen und Schilder der Fremdenführerinnen flattern über Gruppen, die ihre Jakobstäbe schon für die Daheimgebliebenen eingekauft haben. Eine zähe Bewegung auf das Portal zu, und stetig saugt die Kathedrale unterschiedslos Gläubige wie Nichtgläubige, junge wie alte Menschen jeder Hautfarbe in ihren düsteren Leib. Und ich? Zwischen ihnen, mitten zwischen all den Fremden eingekeilt, aber, sonderbar, nicht bedrückt, so, als ob keiner mich berührte, als ob sich ihre Körper mit dem meinen überschnitten … Die Macht aller Dome: Der gewaltige Raum verkleinert mich zum Bittsteller. Besonders hier, »wo das romanische Maß der Höhe als doppelter Breite verschoben ist: Dreimal so hoch wie breit hebt sich das Gemenge aus glaubensgewisser Romanik, himmelwärts strebender Gotik und dem so siegreichen wie zerstörerischen Barock, der sein Jenseitstheater auf die Erde holte und seine Verzierungen rücksichtslos den vorgefundenen klaren Formen eingeknetet und aufgepfropft hat«. Schon wieder diese Sätze. Habe ich sie auswendig gelernt? Wozu? Ich soll schreiben über diese Stadt? Ich bin bereits dabei? Für wen? Für ein atheistisches US-Reiseunternehmen?
Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Also Liliane hat den Auftrag angenommen! Und mir nichts gesagt. Aber schreiben soll ich . So geht es, wenn man Ehe und Geschäft vermischt. Ich werde mit Liliane ein ernstes Wort reden müssen. Natürlich erst, wenn es ihr wieder besser geht. Der Hochaltar mit seinem lastenden Baldachin, von vier mächtigen Engeln getragen, die sich zwischen ihn und die Wände quetschen, lässt keine Kontemplation zu: Er protzt und prunkt. Querschiff und Längsschiff von zahllosen Kapellen erweitert, die dichte Reihe der Beichtstühle offeriert den Entschuldungs-Service in allen gängigen Weltsprachen. An fast jedem der unheimlichen Holzkämmerchen kniet seitlich ein Mensch am Gitter und erleichtert seine Seele – mitten im Gedränge wächst so die Summe der eingestandenen Sünden. Immerhin, wer durch die in diesem Jahr geöffnete »Heilige Pforte« eintritt und daran glaubt, ist purgiert und salviert
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