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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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wenige sogar mit unverhohlenem Vergnügen; und da und dort hob einer die Hände zum Beifall. Wenn auch vielleicht nachvollziehbar ist, dass manche sich in diesem Augenblick erleichtert fühlen mochten, weil sie unbewusst längst dem Zwang zu entkommen suchten, den die Fotoindustrie mit immer neuen Geräten ausübte – indem sie in uns Bildersüchtigen durch immer raffiniertere Entlastungen der eigenen Perspektive, immer verlockendere Versprechungen bezüglich der fotografischen Ergebnisse das Gefühl wach hielt, nicht in der Gegenwart zu leben, wenn man nicht auch die neueste Technik sein eigen nannte – so verblüffte mich doch die selbstzufriedene Gebärde, mit der viele hier ihre Enteignung hinnahmen. War es das Licht Italiens, das diese Szene so ganz anders geraten ließ als jene in Prag, die ich mit eigenen Augen gesehen hatte? Hatte das leichtblütige Venedig die Überfallenen heiter gestimmt, das schwerblütige Prag aber die Menschen in gleicher Lage verdüstert? Oder – dies schien mir nach einigem Nachdenken die schlüssigste Erklärung – hatte der Große Antimago das gespeicherte Dokument nach seinem ideologischen Muster bearbeitet? Als ich diesen Gedanken fasste, ließ Reeper es genug sein und kehrte aus der linken oberen Monitorecke in voller Gesichtsgröße auf den Bildschirm zurück. »Das hat Ihnen gefallen, nicht wahr, ach ja, es waren herrliche Zeiten! Ich will Ihnen, obwohl ich es nicht müsste, gern verraten, dass wir an diesen Aktionen sehr gut verdienten.
    Die großen Fotokonzerne hatten klar erkannt, was lief, und über Jens Jakob von Tonnda frühzeitig Kontakt mit uns aufgenommen. Sie zahlten nicht schlecht für diese weltweite Ankurbelung ihrer Umsätze – während sie öffentlich nach den strengsten polizeilichen Maßnahmen gegen uns schrien! Die Gegner bedienten auf diese Weise hervorragend die Interessen des jeweils anderen, und jeder hatte seinen Vorteil davon. Wie gesagt, eine herrliche Zeit.« Ich ließ mich auf seine Nostalgie nicht ein, schloss sein Dokument, was er mit deutlich verblüffter Miene quittierte, bevor er vom Bildschirm verschwand. Mir war aufgefallen, dass während der wilden Fahrt durch die Touristenorte der Welt in der Jakobus-Kathedrale von Santiago unter den Gläubigen hinter dem Altar eine Figur zu sehen war, die zumindest große Ähnlichkeit mit Reeper aufwies. Falls er selbst dort anwesend und mitgespeichert war, hatte ich die Chance, ihm zu begegnen, ohne das Programm seines EGO knacken zu müssen. Bei einem Außendokument würde er mich möglicherweise nicht hindern. Eine geringe Chance, aber eine Chance immerhin. Sie können sich vorstellen, dass ich zögerte, mir Reepers Cyberanzug überzustreifen und seinen Cyberspace-Helm mit dem Videovisier aufzusetzen. Der Bastler konnte jenseits der Wirklichkeitsbarriere fallenartige Verschlüsselungen eingebaut haben, die mir entweder den Zugang oder, was schlimmer war, die Rückkehr versperrten und mein Gehirn für immer in seiner Welt festhielten. Auch war ich mir keineswegs sicher, ob ich meine Kenntnisse der virtuellen Realität mit auf den Weg würde nehmen können oder sie, am Ziel angelangt, vergessen hätte. Unzählige Male hatte ich bei den unterschiedlichsten Cybertrips, seien sie zur Erholung in Entspannungsstudios oder als Innenprüfung von Werbespots unternommen worden, die Erfahrung gemacht, dass ich mich selbst in unbestimmbarer Weise veränderte, während ich mich in den künstlichen Gebieten bewegte; dass ich alle Kraft der Konzentration aufwenden musste, um mir bewusst zu bleiben, wo ich war, in einem digitalen Gebilde als digitaler Betrachter, und um mit dem Schließen der Augenlider für mehr als drei Sekunden das Programm durch den Eyestopper zu beenden und mir, zurück in der Wirklichkeit, den Helm selbst abnehmen zu können. Auch dann gab es keine Gewähr für den geistigen Zustand. Sie kennen die zahlreichen Schicksale jener unglücklichen (oder vielleicht besonders glücklichen) Jugendlichen, die, nach einem Longtrip von Helfern befreit, in manchmal wochenlangem, manchmal lebenslangem virtuellen Koma gefesselt blieben. Wir nannten das seinerzeit die Second World Desease . Natürlich hielt ich mich zurecht für einen Experten, trainiert genug, um mich in Reepers Räumen zurechtzufinden und Ebenensprünge zu vermeiden. Die prometheische Gewissheit unserer Spezies überblendet ja jede vernünftige Angst. Ich gab den Suchbefehl nach Santiago de Compostela in unterschiedlichen Schreibweisen ein,

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