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Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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wie seit der Taufe nicht mehr … Woher weiß ich das, ich habe doch keine Ahnung vom katholischen Ritus, ich bin doch seit dem Begräbnis meiner Mutter in keinem Gottesdienst mehr gewesen. Nun gut, ich recherchiere sorgfältig, das ist wahr … Unter der Vierung geht auf großem Podest die Messe voran. Im Gestühl ein aus Neugierigen und Gläubigen gemischtes Publikum. Nicht wenige werden da neben mir sitzen, die nicht so sehr gespannt auf die Wandlung warten, als vielmehr auf das spektakuläre Ereignis, das es so wie hier in Santiago nirgends sonst auf der Welt gibt: den schwingenden Weihrauchkessel. Den was? Den Weihrauchkessel natürlich! Deswegen bist du doch hier! Deine Agentur MAKE hat den Großauftrag der Stadt- und Distriktregierung von Santiago an Land gezogen, und du wirst eine phantastische Werbung in sämtlichen Fernsehstationen der USA platzieren, die der Vatikan bezahlt, du wirst die Werbung überhaupt für das Ende der Welt entwerfen, eine Serie von zwölf Spots zu jeweils einer Minute! Eine ganze Minute! Du weißt, was das heißt! Du hast schon ein volles Leben in einer halben Minute erzählt, was heißt ein Leben, ganze Familiengeschichten über drei Generationen! Da wirst du doch diesen verdammten Kessel in eine Minute packen können! Sieh hoch, höher! Wo Längs- und Querschiff sich schneiden, blickt aus der Kuppel der Vierung das gemalte Dreieck mit dem riesenhaften Auge auf uns herab. Gleich unter ihm vereinigen sich vier eiserne Träger, in die Höhe gewölbt, zu einem Mechanismus aus Rollen, über die ein Seil läuft – ein Tau, armdick. Das eine Ende ist in erreichbarer Höhe um eine der Säulen geschlungen, das andere hängt, beschwert von einem Silbergewicht und von der Erddrehung sanft bewegt, dicht über dem Podest. Aus dem Schatten der Apsis treten jetzt einige Kirchendiener in weinroten Kutten, sie sehen wie Mönche aus. Ihre straffe Haltung hat etwas Soldatisches, kräftige Burschen. Sie lösen das Ende des Taues von der Säule, spleißen es auf in fünf Seile. Jetzt tragen zwei weitere Diener auf ihren Schultern eine Stange herein, und an ihr hängt zwischen den Trägern schwer das Gefäß: eine Art riesiger Ampel, im oberen Teil von Löchern und Schlitzen durchbrochen, mit vier Ketten bespannt, zum Fuß hin weit gebaucht. Ein Fass, ein Kessel, ein Ofen aus massivem Silber, der nun langsam abgesetzt wird unter dem frei baumelnden Ende des Taues.
    Man öffnet den Ofenkopf, senkt eine Schale voll glühender Kohlen in den Bauch, bestreut sie ausgiebig mit Harz, schließt wieder und sichert. Dann wird das Tau durch den Ring an seiner Spitze gezogen, kunstvoll geschlungen und mehrfach geknotet. Am anderen, aufgespalteten Ende des Taues ergreifen die sportlichen Diener die Seile und hängen sich gemeinsam daran: Der Weihrauchofen, gezogen über die Rollen hoch in der Vierung, hebt sich über den Boden. Der den Knoten geknüpft hat – und seine Sicherheit deutet darauf hin, dass er der Meister der Zeremonie ist, der weinrote Knüpfer also packt nun an den Ketten den qualmenden Kessel, der ihm bis zur Brust reicht, und zieht ihn, rückwärts gehend, einige Schritte weg von der Mitte wie eine Schaukel; hält ihn einen Augenblick und nimmt Maß. Lässt ihn dann los. Träge pendelt am dreißig Meter langen Tau das silberne Gefäß in die Mittelachse des Querschiffs, und als der Knüpfer gewiss ist, dass die Bahn exakt und keine seitliche Drift zu fürchten sei, gibt er dem Ofen einen kräftigen Stoß, springt dann zur Seite: Schon der nächste Rückschlag des Pendels würde ihn vom Podest fegen. In Ordnung. Und damit soll ich Leute in L. A. und Boston und Texas in die Flugzeuge scheuchen? Denen allen in Rundkinos schon schlecht geworden ist von Weltraumreisen? Die ihre Mägen am sechsfachen Looping und ihre Augen in Cyberspace-Kriegen trainiert haben? In CYBER … Space …? Ein messerscharfer Schmerz in meinem Kopf, ich muss mich am geschnitzten Fries der Kirchenbank vor mir mit beiden Händen festhalten. Dieser Schmerz, Liliane! Was ist das? Wo bist du? Er weitet sich aus, er kreist wie eine glühende Scheibe in meinem Kopf, er teilt mich, er spaltet mich quer! Ich muss auf die Knie, wie viele haben hier schon gekniet auf dem Holz? Ich sehe sie alle, sie kamen von weit her, zu Fuß, auf Eseln und Pferden, alle dringen sie in mich ein, sie fressen sich durch die Haut, sie wollen alle an meiner Wirbelsäule hinaufklettern in meinen Kopf, sie stinken nach käsigem Schweiß und Ziegenmist, sie

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