Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht der Haendler

Die Nacht der Haendler

Titel: Die Nacht der Haendler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
Vom Netzwerk:
Italienisch. »Aber Sie können nicht ewig dort stehen bleiben. Die Hunde werden Ihnen wirklich nichts tun.« Nun konnte ich seine blitzartige Verwandlung in einen Schauspieler beobachten, der aus der Lage jeden nur möglichen Vorteil zu ziehen suchte. Er griff sich ans Herz, stöhnte, lächelte mir jungenhaft zu, bückte sich und sammelte seine Wäsche-ballen und Teppiche ein, bis er wieder in voller Händlermontur vor mir stand. Dann wankte er, nicht stark, nur so viel, dass ich das Gefühl bekommen sollte, ihn erleichtern zu müssen.
    Er trug seine Waren langsam zur Bank, legte sie auf den Schieferplatten ab, fast achtlos, als habe er keine Kraft mehr, sie sorgsam zu behandeln, und ließ sich mit einem halbunterdrückten, darum um so lauter wirkenden Seufzer am Tisch nieder. Wieder griff er sich ans Herz. »Sie fühlen sich nicht wohl?« fragte ich. Er nickte müde. »Sie haben Hunger? Sie kommen weit her? Sie haben noch nicht gefrühstückt? Kann ich Ihnen etwas Käse und Brot anbieten?« Immer wieder nickte er, scheinbar abwesend. »Aber ich habe kein frisches Brot.« Er winkte ab, als könne es ihm gar nicht alt genug sein. »Und ein Glas Wasser?« Er hob den Kopf, legte ihn schief, sah mich an. »Ah ja, kein Wasser. Also Wein.« Er hob die Schulter, legte den Kopf zur anderen Seite, richtete beide Handflächen nach oben. Wie soll ich da Nein sagen, sollte das heißen. Ich musste lachen und wandte mich ab. Der Bursche gefiel mir. Wir saßen lange bei hartem Brot, Ziegenkäse und Wein in der Sonne. Der Händler wusste, dass ich ihm nichts abkaufen würde. Es ging auch nicht mehr darum. Anfangs sprach er noch von seinem kranken Herzen und davon, dass er glaubte, sterben zu müssen, als meine Hunde ihn stellten, von seinen acht Kindern zu Hause in Algier, denen er jede Woche Geld sandte, von der Qualität seiner Waren – aber die Sonne stieg, und die Lügen verdampften. Nun sprach er Französisch. Er erzählte von seiner Kindheit in einem algerischen Dorf südlich des Tellatlas, ich weiß noch den Namen, Lazouija, von den Soldaten, die gekommen und alle Männer im Dorf erschossen hatten, von seiner Mutter, die mit ihm und seinen zwei Brüdern und drei Schwestern das Dorf verlassen hatte; er erzählte von Genua, dort hatte er, mit nach hinten hochgebundenem Bein und einem Schafskopf als Buckel unter dem Hemd, betteln gelernt; vom Hafen und seinem Geruch, den er liebte, Fisch und Pisse, Rost und Tang, Salz und Katzen; er erzählte von dem Duft des frischen Brotes im Laden des Bäckers – der Brotduft war wie in seinem Dorf gewesen, genauso, aber am schönsten, sagte er, roch zu Hause der Sand, morgens in der feuchten Kühle, der heiße Sand am Mittag, der warme, müde Sand des Abends. Ich hörte ihm eine weitere Flasche lang zu. Er war, was er nicht wusste, ein wundervoller Erzähler. Vielleicht war er es, weil er es nicht wusste. Wir liefen zusammen, von den Hunden begleitet, unter dem Schatten der Olivengärten zu meinem noch immer in empfindlicher Balance liegenden Pinienstamm hinauf, und ohne zu Zögern stellte der Händler sich darunter, blickte hoch und sagte, der werde noch hundert Jahre so liegen. Dann saßen wir wieder auf der Bank an meinem Tisch, aßen Brot mit Olivenöl, tranken Kaffee, und fortwährend erzählte der Händler, ich sah die Nacht über seinem Dorf, ich sah den von Sternen funkelnden Himmel, ich hörte die Ziegen meckern im Dunkeln, ein paar Kamele grunzten und knurrten und schnauften. Ich wurde neidisch. Und wieder tranken wir Wein. Die ligurische Nacht sank auf uns herab, und der Händler wollte, dass nun ich erzählen sollte, von meiner Welt, meinem Leben, meinen Träumen … Mit einem Mal fand ich mich arm, ich berichtete vom Geld, von den Computern der Börsen, in denen nicht sichtbare und durch nichts belegbare Summen hin- und hergeschoben würden, ich erzählte von den Verwirrungen der Wirtschaft, von den unerklärlichen Bilanzlöchern, an denen nun große Handelshäuser, ganze Konzerne, ja Staatsbanken zugrunde gingen – und der Händler sah mich mit großen Augen an und verstand nichts. Natürlich wusste er, was ein Computer war. Natürlich kannte er Geld. Aber warum uns Zahlen, die einfach verschwanden, Sorgen machten, obwohl es bloß Zahlen waren, wollte ihm nicht in den Kopf. Denn mit Zahlen, soviel hatte er doch gelernt, konnte man in Gedanken, auf Papier oder im Sand tun, was man wollte, sie groß und klein machen und ineinander verschwinden lassen, man konnte sie sogar so

Weitere Kostenlose Bücher