Die Nacht Der Jaegerin
besten draußen herumlaufen, bis er sich abgeregt hat.»
Jetzt hockte sie mit angezogenen Knien auf dem Schreibtischstuhl. Sie war unheimlich blass. Lols weißer Rausch war verflogen.
«Ich weiß nicht einmal genau, wie krank er eigentlich ist», sagte Merrily. «Ich kenne mich mit Asthma nicht aus. Was ist, wenn er plötzlich draußen auf dem Marktplatz Atemprobleme kriegt?»
«Wohnt Alice weit weg?»
«Zu Fuß drei Minuten.»
«Dann ist es doch kein Problem.»
«Hoffentlich nicht.» Sie stand auf, ließ sich neben ihm auf dem Teppich nieder und erzählte ihm von Roland Hooks Tod und siebzehn Jahren zerstörerischer Verbitterung in seiner Familie.
«Ich komme nicht ganz mit», sagte Lol. «Irgendwie verstehe ich Dexter. Ist es normal, eine Art verspäteten Beerdigungsgottesdienst abzuhalten, weil man hofft, dass dadurch alles in Ordnung kommt?»
«Jeavons», sagte Merrily.
«Der undurchsichtige Kanonikus.»
«Es ist
nicht nur
Jeavons. Mehrere der Geistlichen, die sich mit Heilungen beschäftigen, gehen davon aus, dass eine Krankheit, und vor allem eine chronische Krankheit, das Ergebnis eines unaufgelösten innerfamiliären Konflikts sein kann. Oder dass das Opfer von einem Vorfahren bedrängt wird.»
«Also wird man von seinen Vorfahren heimgesucht und merkt es nicht mal?»
«Es ergibt einen gewissen Sinn, und genau darin besteht das Problem. Wir stellen Heimsuchungen fest, ohne dass es eine Erscheinung gibt ... von der Krankheit oder einer emotionalen Krise abgesehen. Wir ... damit meine ich die Kirche von England.»
«Indem du also dem Geist dieses armen Kindes Frieden bringst, kannst du theoretisch ...»
«
Ich
kann gar nichts.»
«Sorry, Regelverstoß. Also: Indem du dieses Seelenamt für das tote Kind organisierst, kannst du, theoretisch, den Weg
für Gott
frei machen, um nicht nur Dexters Asthma zu kurieren, sondern auch das Zerwürfnis in seiner Familie?»
«Mmmh ... ja.»
«Verflucht», sagte Lol. «Dann kannst du den Rest deines Lebens damit zubringen, komplizierte Seelenmessen für Leute zu organisieren, die sämtliche Probleme ihren Vorfahren anlasten. Logisch, die Toten sind schuld.»
Merrily zuckte mit den Schultern.
«Und das erlaubt die Kirche von England?»
Merrily sagte:
«Als es aber Abend geworden war, brachten sie viele Besessene zu ihm; und er trieb die Geister aus, und er heilte alle Leidenden.»
«Was ist das?»
«Matthäusevangelium. Matthäus verbindet Heilung und die Erlösung von Geistern miteinander.»
«Du bist nicht Jesus», sagte Lol. «Solche Heilungen machen dich womöglich krank.»
«Sehe ich krank aus?»
«Du siehst müde aus.»
«Mir geht’s gut. Wirklich.» Sie lächelte ihn an. «Ich bin schrecklich froh, dass du da bist.»
Ihre Schultern berührten sich. Lol atmete tief ein.
Merrily ließ ihren Kopf auf seine Schulter sinken. «Ich weiß überhaupt nicht, wie ich reagieren soll. Ein paar
Gerüchte
über angebliche Heilungen reichen aus, und schon ist meine Kirche voller, als ich es mir je erträumt hätte. Aber mir treibt es den Schweiß auf die Stirn. Irgendwer erzählt was von einer Wunderheilung, und im Handumdrehen ist man wichtig, und die Jünger scharen sich um einen.»
«Ist ja echt unheimlich.»
Das war es wirklich. Lol wollte nicht, dass Merrily in ein solches Umfeld geriet, weil seine Eltern als frisch wiedergeborene Anhänger der Pfingstbewegung eifrig an Heilungsgottesdiensten eines verrückten Erweckungspredigers teilgenommen hatten, der die Leute so lange geschüttelt hatte, bis die Krankheit aus ihnen herausfiel. Aber selbst dieser Pfarrer hatte nicht versucht, die Lebenden durch die Toten zu heilen.
Merrily sagte: «Ich möchte natürlich, dass die Kranken gesund werden. Ich will dabei nur nicht als so wichtig angesehen werden. Es ist zu früh. Irgendwie ist es zu früh für das weibliche Priesteramt. Und ganz bestimmt ist es zu früh für mich. Ganz schön egoistisch, oder? Und ganz schön feige.»
Tränen liefen ihr über die Wangen, und Lol nahm sie tröstend in die Arme. Das war wirklich ein lausiger Job. Jane hatte Lol schon oft gesagt, wie sehr sie auf den Tag hoffte, an dem Merrily die Erleuchtung überkam, sodass sie die Kirchentür hinter sich zuknallen und sich so schnell wie möglich absetzen würde.
Merrily sagte: «Lew Jeavons meinte, der Fall wäre interessant, und damit hatte er nur allzu recht. Und alles passt zusammen, sogar wenn man es vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet. In diesem Fall –
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