Die Nacht Der Jaegerin
verbringen würde, aber die Umstände, Gott sei’s geklagt, verhindern es.»
«Kanonikus Jeavons?», sagte Lol.
«Nennen Sie mich Lew. Kürzen wir eigentlich so gern unsere Vornamen ab, weil wir glauben, das würde irgendetwas vereinfachen? Sie sind Lol, oder? Wissen Sie, ich habe mich schon gefragt, ob ich weniger mit idiotischen Ratschlägen um mich werfen würde, wenn ich alle drei Silben meines Vornamens benutzen würde ... könnte ja sein, dass ich dann irgendwie langsamer wäre oder mehr nachdenken würde.»
«Meinen Sie so etwas wie:
Gehen Sie mit offenen Armen darauf zu
?»
«Gut», sagte Kanonikus Jeavons. «Sie spricht mit Ihnen. Ja, ich glaube, so etwas meine ich. Nach genauerem Nachdenken weiß ich, dass ich hätte sagen sollen:
Seien Sie zurückhaltend und vorsichtig.
Das wäre eine etwas andere Vorgehensweise, nicht wahr?»
«So ungefähr das Gegenteil», sagte Lol.
«Lol», sagte Kanonikus Jeavons. «Sie müssen mir nicht sagen, wohin sie gegangen ist, aber ich fände es beruhigend zu wissen, dass sie nicht in der Sache eines Jungen unterwegs ist, der bei einem Autounfall zu Tode kam.»
«Nein, damit hat es nichts zu tun», sagte er.
«Danke», sagte Jeavons ernst. «Darf ich fragen ... Sind Sie ein religiöser Mensch, Lol? Nein, vergessen Sie die Frage. Das ist aufdringlich. Ich wollte sagen, dass ich mit
nach genauerem Nachdenken
mein Gebet gemeint habe. Es hat mich zu folgendem Schluss gebracht: Sag ihr lieber, dass sie sich Rat holen soll, bevor sie in dieser Sache irgendetwas Weiteres unternimmt.»
«Sie hat sich ja Rat geholt», sagte Lol. «Und zwar bei Ihnen.»
Stille.
«Ja», sagte Jeavons dann schwer. «Allerdings ...»
«Nur damit ich das recht verstehe», sagte Lol, «
Gott
hat Ihnen gesagt, dass Sie anrufen sollen, weil Er von Ihrem Rat nicht besonders angetan war?»
«Lol ...»
«Hat sie Ihnen von dem Bruder erzählt?»
«Das schwarze Schaf.» Jeavons seufzte. «Ja.»
«So etwas kann ganz schön belastend sein.»
«Ja, ich weiß. Aber sagen Sie, wo ist sie bei diesem schrecklichen Wetter hin?»
Lol sah zu seiner alten Washburn-Gitarre hinüber, die er Ende des Sommers bei Merrily gelassen hatte, um bei ihr die Songs für das neue Album zu üben. Merrily hatte die Gitarre zwischen Schrank und Fenster an die Wand gelehnt.
«Na ja», sagte er. «Ich hoffe, sie führt gerade ein ruhiges Gespräch mit einem harmlosen Bauern, der einen Selbstmordversuch hinter sich hat. Ich hoffe, sie hat sich
nicht
überreden lassen, beim Exorzismus eines mittelalterlichen Teufels und eines Höllenhundes die Rolle von zwölf Geistlichen zu übernehmen.»
Das Gelände war felsig und verschneit.
Der Weg musste hier irgendwo sein, aber Jane fand ihn nicht. Sie war Ben in den verschneiten Wald nachgestolpert, hatte nach seinen Fußspuren gesucht und war schließlich keuchend bei der Weggabelung an der Zufahrt herausgekommen. Der eine Weg führte hinunter zur Umgehungsstraße von Kington, der andere, viel schmalere, wand sich die Stanner Rocks hinauf.
Sie war erst ein Mal dort oben gewesen. Die Sonne hatte geschienen, und die Aussicht war einfach toll gewesen. Der Weg war nicht sehr steil, und wenn es trocken war, konnte man sogar mit dem Auto hinauffahren. Allerdings führte er sehr dicht am Abhang beim alten Steinbruch entlang. Nachts dagegen würde sogar bei bestem Wetter nur ein Verrückter versuchen, zum Plateau der Stanner Rocks hinaufzufahren.
Etwa fünfzig Meter vor sich sah Jane die Kiefern wie Orgelpfeifen aufragen. Hatte Ben eine Taschenlampe angeschaltet? Eigentlich hatte sie ihn nicht dort vermutet. Zu niedrig am Hang. In dieser weißen Hölle konnte man unheimlich leicht die Orientierung verlieren. Sie ging in Richtung des Lichts weiter.
«Aaah!» Ein Zweig schlug ihr ins Gesicht, zog ihr den Schulterriemen der Kamera weg, sie stolperte, und die Kamera fiel in den Schnee.
Mist. Sie klaubte die Videokamera auf und wischte sie ab. Beim Weitergehen hielt sie die Kamera in beiden Händen. Sie sah und hörte nicht das Geringste von Ben oder Beth Pollen, und das Licht der Taschenlampe war ebenfalls verschwunden. Sie musste aufpassen, wohin sie trat.
Schließlich blieb sie stehen. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass sie sich nicht besonders erwachsen verhielt. Erwachsenes Verhalten wäre es gewesen, erst einmal alles in Ruhe zu durchdenken. Und dass sie mit Ben Streit angefangen hatte, konnte man ebenfalls nicht als schlau bezeichnen. Aber wenn man erst mal in so
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