Die Nacht Der Jaegerin
nicht mit denen reden. Ich vertraue keinem von denen. Ich will hier weg. Wenn du mit Mom redest, sag ihr ... sag ihr, dass ich nach Hause will.»
Als das Telefon wieder klingelte, rannte Lol die Treppe hinunter und nahm das Gespräch auf dem schnurlosen Apparat in der Küche an.
«Ich hoffe, ich rufe noch rechtzeitig genug an, mein Sohn», sagte Jeavons. «Möchten Sie mitschreiben?»
«Einen Moment.» Lol ging ins Spülküchenbüro und setzte sich an den Schreibtisch. Der Raum wurde nur von den Heizstäben des Elektroofens erleuchtet. Lol nahm einen Stift in die Hand.
Dann sprang er wieder auf. «Oh!»
«Alles klar bei Ihnen, Lol?»
«Ja, ich ... Kann ich Sie zurückrufen?»
«Sicher.»
«Gut.» Am Fenster sah Lol das Gesicht von Dexter Harris, der so dicht an der Scheibe stand, um in den Raum zu spähen, dass sich seine vorspringende Unterlippe an das Glas drückte. «In zehn Minuten melde ich mich.»
36 Der Winter hat sein erstes Opfer gefordert
Als Jane bewusst wurde, wie knapp sie davor war, die Fassung zu verlieren, zog sie sich in die Ecke des Schlafzimmers zurück, die am weitesten vom Fenster entfernt war.
«Mom, das
kann
er gar nicht getan haben. Er ist nett, er ist vollkommen harmlos. Er ist der einzige Bauer in der ganzen Gegend hier, der nicht mal ein Gewehr auf dem Hof hat.»
«Ich will doch genauso wenig wie du, dass er es war, aber ...»
Merrily saß auf der Bettkante, ihr Gesicht war aschfahl. Sie waren zusammen in Janes Zimmer gegangen, hatten kein Licht angeschaltet und tauschten Informationen aus. Wie Spione in einer verlassenen Festung, dachte Jane. Im ersten Moment hatte sie die Eröffnung, dass Natalie die Tochter von Hattie Chancerys Kind war, einfach bloß sprachlos gemacht.
Natalie Craven war Hattie Chancerys Enkelin.
Dass sie Sebbie Dacres Cousine war. Und Jeremy ihr Pächter.
Und dass sie eigentlich ...
Brigid
hieß.
Es sieht also so aus, als würde sie es immer noch machen. Sie können eben einfach nicht aufhören. Es ist wie ein körperliches Bedürfnis. HOWARD
Ich träume schon seit zwanzig Jahren von ihr. Bei dem Gedanken an sie wird mir immer noch ganz heiß. GAVIN
«Wir sollten nach Hause gehen. Wir wissen zu viel», sagte Jane.
Und sie meinte damit, dass sie nicht noch mehr erfahren wollte, jedenfalls nicht an diesem Abend. Aber Mom wollte nicht nach Hause. Das sah man schon daran, wie sie dasaß – den Dufflecoat offen, die Hände auf den Oberschenkeln. Und der Lust zu rauchen widerstand sie sicher nur, weil das Zimmer so klein und Jane dabei war und man bei der Kälte das Fenster nicht öffnen konnte. Eigentlich war Mom, wenn sie erst mal mitten in einer Sache steckte, nicht viel besser als Bliss.
«Du bist Pfarrerin. Du musst Bliss überhaupt nichts sagen. Das ist genauso wie beim Beichtgeheimnis. Sie können dich nicht zwingen. Nicht mal vor Gericht.»
«Ich glaube nicht, dass es so weit kommt. Und darum geht es auch gar nicht. Meine Güte, hier drin ist es eiskalt, Jane. War das die ganze Zeit so?»
«Sie können sich für die Angestellten keinen Luxus leisten.»
Sie hatten über das Wohnmobil gesprochen. Das, mit dem Nat und Clancy eines Tages wie die Zigeuner angekommen waren. Das, in dem Nat, Mom zufolge, mit einem Mann gesehen worden war. Das hatte Jane zuerst einfach nicht glauben wollen. Eins war ja klar: Wenn eine so gutaussehende Frau wie Nat an einem Ort wie diesem ankam, wurde sie von den Frauen schon beim ersten Anblick abgelehnt. Als sie dann noch frech genug gewesen war, etwas mit einem unverheirateten Bauern aus dem Ort anzufangen, hatte es in der Gerüchteküche erst so richtig gebrodelt. Und dabei kamen immer Fehlinformationen heraus.
«Es tut mir leid», sagte Mom gestresst. «Ich wünschte, ich müsste über nichts davon weiter nachdenken. Er war praktisch sein ganzes Leben in sie verliebt, sogar ich habe das bemerkt. Es wäre schön, wenn man glauben könnte, dass die Liebe keine unerwünschten Nebenwirkungen hat.»
«So etwas würde er nicht tun. Ich kenne ihn zwar nicht besonders gut, aber so etwas würde er nicht tun. Er könnte es einfach nicht. Clancy sagt, er kann nicht mal seine Tiere zum Verkauf auf den Markt bringen, weil sie dann in den Pferchen leiden müssten. Also bringt er sie direkt ins Schlachthaus. Er ist ein altmodischer Bauer. Er hat Ehrfurcht vor dem Leben.»
«Er hat versucht, sich aufzuhängen.»
«Das beweist überhaupt nichts», sagte Jane.
«Aber es wirft ein paar Fragen auf.»
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