Die Nacht Der Jaegerin

Finger vom Klingelknopf. Keine Reaktion. Er versuchte es erneut, und dieses Mal drückte er etwa zehn Sekunden auf den Klingelknopf.
    Dann erstarb das Schrillen der Klingel im Bungalow wieder. Das Licht brannte wie zuvor. Der Schnee fiel unverändert in der windstillen Dunkelheit.
    In die Tür war ein schmales Glaspaneel eingesetzt, und als sich Lol an sie lehnte, um durch das Glas zu spähen, schwang die Tür auf.
     
    Merrily zündete sich die nächste Zigarette am Rest der vorhergehenden an. Das tat sie nie: Das war Kettenrauchen, eine Sünde. Allerdings bemerkte sie es kaum, bis der Rauch vor Arthur Conan Doyles Porträt emporstieg wie graues Ektoplasma.
    «Wie lange wissen Sie schon über sie Bescheid?»
    «Ein paar Monate», sagte Bliss. «Die örtliche Polizei wird routinemäßig informiert, wenn jemand mit ihrem ... Ruf in den Amtsbezirk zieht. Die Sozialarbeiter und Bewährungshelfer werden auch eingeschaltet.»
    «Wie lange war sie im Gefängnis?»
    «Acht oder neun Jahre. Das letzte Jahr im offenen Vollzug. Sie kommen für eine bestimmte Zeit raus, um Erfahrungen in der Arbeitswelt zu sammeln. Sie wurde bei einem großen Gasthaus genommen, hat ihren Job sehr gut gemacht und kam auch mit den Leuten gut zurecht. So ist sie mit diesem Beruf anscheinend auf den Geschmack gekommen. Man kann sich da ja beinahe selber wie im Dauerurlaub fühlen, und viele Leute in so einem Gasthaus sind ja tatsächlich im Urlaub. Alles ist auf Zeit, befristet. Auf der Durchreise.»
    «Ich vermute, es ist sehr schwer, sich nach so einer langen Haft draußen wieder irgendwo einzuleben.»
    «So war es bei ihr nicht. Sie war an sechs verschiedenen Haftorten überall im Land. Zuerst waren es Einrichtungen für jugendliche Straftäter und später zwei Frauengefängnisse. Ich glaube, sie wussten von Beginn an nicht, was sie mit ihr anfangen sollten. Sie war klug, aufgeschlossen, konnte gut mit Menschen umgehen – sie war ganz anders als die typischen depressiven Psychomörder.»
    Merrily sagte: «Wussten ihre Arbeitgeber, wer sie war?»
    Wusste Jeremy, was Brigid getan hat
? Aber wie sollte er es nicht wissen? Sie war im ganzen Land zur Hassgestalt geworden, deren Name in den Schlagzeilen der Boulevardpresse praktisch immer in Verbindung mit dem Wort «Satan» auftauchte.
Satansbrigid sollte niemals aus der Haft kommen, sagt Mutter des Opfers.
Dann:
Satansbrigid schwanger. Satansbrigid heimlich entlassen.
Schließlich die Jagd der Medien –
Wo ist Satansbrigid?
    Hier.
    «Nicht unbedingt», sagte Bliss. «Manche dieser Arbeitgeber wollen gar nicht wissen, was die Leute getan haben. Und als sie dann entlassen wurde, hatte sie einen neuen Namen, neue Papiere, Führerschein, Steuernummer und so weiter. Hier lebt sie schon mit ihrem zweiten neuen Namen. Unter dem ersten haben sie die Medien in einem Hotel in Cornwall aufgespürt. Danach hat sie sich die Haare dunkelbraun gefärbt. Es gab auch Gerüchte von einer Gesichtsoperation, aber das glaube ich nicht.»
    «Hat sie denn immer noch einen Bewährungshelfer oder so etwas?»
    «Klar, aber der hält sich im Hintergrund. Und auch die Beamtin, die sie zuerst verhaftet hat, Ellie Maylord, beobachtet sie weiter. Ellie war mal meine Chefin, als ich bei der Polizei angefangen habe. Später wurde sie der erste weibliche Detective Chief Inspector in Merseyside, und danach hat sie es noch bis zum Superintendent gebracht. Aber als sie Brigid Parsons festgesetzt hat, war sie noch ein kleiner Detective Constable, und sie hat immer Kontakt mit ihr gehalten ... Na ja, ich glaube, sie war irgendwie fasziniert, wie übrigens die meisten Menschen, von jemandem, der so ... extrem war.»
    «Zwangsläufig», sagte Merrily und betastete ihr Kreuz an der Halskette.
    «Und es war Ellie, die sich im Oktober unauffällig bei mir gemeldet hat. Meine Chefin wusste schon Bescheid, ich aber nicht. Ellie machte sich Sorgen, weil Brigid von ihrer guten Management-Stelle in einem großen Hotel in Shropshire hierher wechseln wollte ...», Bliss ließ seinen Blick durch den Raum wandern. «In dieses nicht gerade florierende Unternehmen. Ich habe Ellie gesagt, dass ich ein paar diskrete Erkundigungen einziehen und die Augen offen halten werde. Aber wie Sie wissen, war ich in den letzten Monaten ziemlich beschäftigt. Wissen
Sie
, warum sie hierhergekommen ist?»
    Merrily legte ihre Zigarette in einem großen Metallaschenbecher ab und schob ihn weg. Also wusste Bliss nicht, dass Brigid Parsons die Enkelin Hattie