Die Nacht Der Jaegerin
sich erst noch unsere Spezialisten drum kümmern müssen. Aber ich glaube, Sie haben recht. Er wollte sicher sein, dass die schöne Natalie tatsächlich seine Cousine Brigid ist. Und die Sache hätte ihm bestens gepasst. Wenn man nämlich Brigid Parsons heißt, kommt man bei Körperverletzung nicht mit einer einfachen Verwarnung davon. Und dann das ganze öffentliche Aufsehen, mit dem er sie unter Druck setzen konnte. Also hat Sebbie ihr ein Ultimatum gesetzt, um den Bauernhof zu verkaufen ... und da hat sie ihn auf seine allerletzte Reise geschickt.»
«Frannie, würde irgendjemand bei klarem Verstand eine bekannte Gewalttäterin erpressen, während er mit dem Rücken zu einer Felsenklippe steht?»
«Wer sagt denn, dass er bei klarem Verstand war? Haben
Sie
auch nur mit einer einzigen Person gesprochen, die glaubte, er wäre bei klarem Verstand gewesen? Vermutlich war er betrunken. Übrigens ist das noch nicht alles. Den Kerl einfach vom Felsen zu schubsen, das ist überhaupt nicht Brigids Art. Das geht viel zu schnell.» Bliss rieb sich über die Augen. «Ich sollte Ihnen das alles gar nicht erzählen. Ich weiß nicht, warum ich ...»
«Sprechen Sie weiter.»
«Zelda Morgan? Mit den Ehe-Ambitionen?»
«Ich erinnere mich.»
«Zelda war bei der Geburtstagsfeier ihrer Mutter und ist erst kurz bevor wir uns gemeldet haben, zu Sebbie nach Hause gekommen. Er war nicht da. Auf dem Anrufbeantworter war auch nichts. Sie ist im Sessel eingeschlafen und hat die Mailbox ihres Handys erst abgehört, als sie vor einer Stunde oder so wieder aufgewacht ist. Hat einen ziemlichen Schock gekriegt, als sie Sebbies Stimme gehört hat: ‹Beweg sofort deinen ...› – entschuldigen Sie, Hochwürden – ‹fetten Arsch hierher. Und hol die Polizei. Die Irre hat mich von dem Felsen gestoßen, und ich kann mich nicht bewegen.›»
«Wie bitte?»
«Die Stimme eines Verletzten, aber bestimmt nicht die Stimme eines Sterbenden. Billy Grace hatte recht. Die Gesichtsverletzungen passen nicht hundertprozentig zu dem Sturz. Sie ist also von den Felsen runter, hat ihn gesucht und ihm das Gesicht zu Brei geschlagen. Sie ist kein Schmusekätzchen, Merrily.»
«Kann ich noch einmal mit ihr sprechen?»
«Und sagen Sie mir auch, warum?»
«Das weiß ich selbst nicht genau.»
«Wegen dieser Verbindung zu den Vaughans? Was bedeutet das für Sie?»
«Frannie, es könnte eine Weile dauern.»
«Meinetwegen», sagte Bliss.
Um sechs Uhr dreißig ging Merrily mit einer Bibel und einer Karaffe Weihwasser hinauf in Hattie Chancerys Zimmer.
In dem gelblichen Licht sah sie die Fotos von Hattie an der Wand hängen. Was ihr am meisten auffiel, war die Blässe dieser Frau. Ihre Haut war so weiß wie Fischfleisch.
Ein Foto zeigte sie bei der Jagd, vermutlich hatte sie sich dort mit ihrer regelmäßigen Ration Blut versorgt.
Merrily erschauerte. Hardy hatte recht. Das ganze Zimmer war eine kalte Zone, die Atmosphäre aufgeladen mit etwas, das sie nur als Hass und Ekel interpretieren konnte. Das konnte sich auf Hattie beziehen, ebenso gut aber auch auf Brigid.
Früher heute Abend habe ich, umgeben von ihren gruseligen alten Fotos an der Wand, in Hatties Bett gelegen. Beim größten musste ich erst das Glas reinigen, und das habe ich getan, indem ich ihr sozusagen ins Gesicht spuckte, immer wieder.
Merrily zog den Stöpsel aus der Karaffe.
Als sie wieder herunterkam, legte Bliss in der Empfangshalle gerade den Telefonhörer auf.
«Das hätten Sie mir erzählen müssen, Merrily.»
«Was denn?»
«Ach, kommen Sie.»
Es war Bens Sache, ihm von dem Video zu erzählen, also erzählte sie ihm von Lol und Dexter. Was Dexter seinem Cousin Darrin und Alice angetan hatte, was er versucht hatte, Lol anzutun, wie es geendet hatte, und was auf dem Boden im hinteren Flur des Pfarrhauses von Ledwardine lag.
Als Merrily fertig war, wirkte Bliss zunächst unentschlossen, dann wandte er seinen Kopf in Richtung der Tür zum Salon und nickte.
«Also gut. Gehen Sie rein. Sagen Sie Alma, ich hätte Ihnen erlaubt, mit ihr zu sprechen.»
«Also ... danke.»
Es war an der Zeit. Es gab keine Ausrede mehr.
Wie im offiziellen Handbuch der Berater für spirituelle Grenzfragen betont wurde, war es bei einem Seelenamt in einem exorzistischen Kontext unbedingt angeraten, wenigstens einen anderen Geistlichen dabeizuhaben, noch besser mehrere Geistliche. Und das galt für eine normale Messe, der eine ordentliche Vorbereitung über mehrere Tage vorausging. Und
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