Die Nacht Der Jaegerin
suchen, die wir im Alltag vermutlich nicht erreichen können. Wir sagen immer: Ich kann alles verzeihen, nur
das
nicht ... Aber heute sollen wir sagen, und das meine ich ernst: Ich kann alles verzeihen, auch
Das.
»
Vor ihrem inneren Auge sah sie die Frau von dem Foto über dem Bett, eine Frau mit hellem Haar, das zusammengedreht und hochgesteckt war, sodass es aussah wie ein Schlangennest, und mit Augen wie weiße Murmeln. Sie hörte ein wildes Lachen, das Geräusch, mit dem ein Stein auf Fleisch und Knochen trifft.
Hüa! Hüaa!
Es war nicht leicht.
«Glücklicherweise», sagte Merrily, «haben wir Unterstützung.»
Sie schlug das Neue Testament auf. Johannes, Kapitel zwölf. Später würde sie sagen:
«Lasst uns Hattie der Gnade Gottes empfehlen.»
Es war klar, dass noch niemand zur Vergebung bereit war. Nicht einmal Jeremy Berrows, der geborene Bauer, der stille Bauer, mit seinem unschuldigen Gesicht unter Haaren wie Pusteblumen. Ab und zu warf er Brigid einen Seitenblick zu, ihre Schultern berührten sich. Jeremy Berrows, der fest davon überzeugt war, dass das Böse, das in Brigid lebte, Hatties Erbe war.
Und vielleicht war es ja auch so. Vielleicht hatte Bella Chancery in ihrer Trauer und Enttäuschung eine Tür aufgestoßen ... sodass etwas Eintritt fand, das Jeremy jetzt vergeben sollte. Jetzt. Wo er vielleicht noch eine Stunde hatte, bevor er seinen wichtigsten Grund zum Weiterleben für immer verlieren würde.
Johannes, Kapitel zwölf, Vers siebenundzwanzig.
«Jetzt ist meine Seele betrübt. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in die Welt gekommen ...»
Was hatte Kanonikus Jeavons gesagt?
So nämlich entwickeln wir uns weiter – indem wir die Niederlage erleiden und es erneut versuchen und noch ein bisschen mehr leiden. Wir leiden, Merrilee.
Wenn Merrily das Leid Jeremys hätte auf sich nehmen können, sie hätte es getan. Sie spürte ein leichtes Kribbeln an der Wirbelsäule.
Hinter Jeremy saß Alistair Hardy, rundlich und ausdruckslos und glatt rasiert.
Das Medium. Es mochte Medien geben, aber es gab dennoch eine Menge Zweifelhaftes. Zum Beispiel die Sache mit Lucy Devenish. Und auch Dr. Bells «Enthüllung» über das Baby bei dieser dubiosen Zeremonie. Denn Beth Pollen hatte beinahe mit Sicherheit gewusst, dass dieses Baby vermutlich Hattie war, und sie hatte es beinahe mit Sicherheit Hardy erzählt.
Alles Blendwerk.
«‹Da sprach das Volk, das dabeistand und zuhörte: Es donnerte. Die anderen sprachen: Es redete ein Engel mit ihm. Jesus antwortete und sprach: Nicht um meinetwillen ist diese Stimme geschehen, sondern um euretwillen. Jetzt geht das Gericht über die Welt; nun wird der Fürst dieser Welt ausgestoßen werden ...›»
Das Böse austreiben, es war schwer, das nicht zu personalisieren.
Brigid Parsons ... Paula Parsons ... Hattie Chancery ... Black Vaughan und Ellen Gethin. Inwiefern war es berechtigt zu sagen, alles ginge auf Black Vaughan zurück? Der doch anscheinend nur den Sündenbock abgeben sollte. Eine Geschichte, um Vaughan und seine Sitten schlechtzumachen – die walisische Tradition in einer Region, die mit rasantem Tempo anglikanisiert wurde.
Sie sah zu Ben Foley hinüber, der mit gesenktem Kopf dasaß. Der Volksmund sagte, die einstigen Geistererscheinungen hätten den gesamten Handel von Kington bedroht; und Ben hatte gehofft, diese Atmosphäre wiederaufleben lassen zu können.
Merrily fragte sich, ob sie Sebbie Dacre in die Gebete des Gottesdienstes hätte einschließen sollen.
Eine Sache der Vaughans.
Hatte Dacre gewusst, dass er ein Vaughan war? Erklärte das sein Räuberbaron-Verhalten, sein Bedürfnis, das Land als seinen Besitz zu reklamieren, das Tal zu beherrschen? Aber die Bedrohung, die Dacre wahrgenommen hatte, war eine Bedrohung gewesen, die aus seiner eigenen Familie stammte.
Merrily ließ ihren Blick durch den kühlen, dämmrigen Raum wandern.
Wo bist du, Hattie?
Von allem, was sie nicht hatte fragen wollen ...
«Mit deinem Tod hast du unseren Tod besiegt. Uns mit deiner Auferstehung das Leben zurückgegeben.»
Christus ist hier. Er sollte hier sein.
Jetzt.
Alles ist gut.
Das Kribbeln an der Wirbelsäule.
Doch Merrily war so unendlich müde, dass die Kerzenflammen und die Gesichter vor ihrem Blick verschwammen. Sie schüttelte sich unmerklich.
Nicht alle gingen zur Kommunion. Beth Pollen war die Erste, und sie hob den Blick zu dem kalten Blau, das in dem Buntglasfenster
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