Die Nacht der Wölfe
erhoben und dunkel gegen die verschneiten Täler und Senken dahinter abhoben. Auf einem der Felsen glaubte sie eine Bewegung zu erkennen, den dunklen Schatten eines Mannes, der beide Arme zum Himmel streckte, als hätte er vor, sich im nächsten Moment in die Tiefe zu stürzen. Doch er blieb stehen und fuhr mit seinem eintönigen Singsang fort.
Irgendetwas an dem Mann kam ihr bekannt vor, und doch hütete sie sich, so weit auf den Hügel zu klettern, dass man sie erkennen konnte. Stattdessen stieg sie in den Wald zurück und näherte sich den Felsen über einen Umweg durch den dichten Fichtenwald, der sie vor den Blicken des Mannes schützte.
Unterhalb der Felsen, die höher als ein zweistöckiges Haus aus dem Schnee ragten, entdeckte sie einen schmalen Pfad, der sich an der vereisten Wand entlang nach oben wand. Sie steckte den Revolver zurück und machte sich an den Aufstieg. Vorsichtig, damit sie auf dem glatten Boden nicht ausrutschte, tastete sie sich nach oben. Mit der linken Hand stützte sie sich an der schroffen Felswand ab. Der Nachbarfelsen hielt den böigen Wind ab und machte es ihr etwas leichter, das Gleichgewicht zu halten, doch sie blieb wachsam und bewegte sich langsam.
Warum sie dieses Risiko einging, wusste sie selbst nicht. Ihre Neugier schien stärker als ihre Angst zu sein, und ein Gefühl sagte ihr, dass sie von dem Mann auf dem Felsen nichts zu befürchten hatte. Sein monotoner Singsang verriet ihn als Indianer, der auf dem abgelegenen Felsen mit den Geistern sprechen wollte, und schon aus der Ferne war ihr seine Stimme vertraut vorgekommen, ein Gefühl, das sich mit jedem Schritt verstärkte, den sie näher an ihn herankam. Dennoch wurde sie nicht leichtsinnig. Jeden Schritt tat sie wohl überlegt, auch darauf bedacht, sich dem Indianer nicht zu verraten. Erst wenn sie wusste, um wen es sich handelte, wollte sie sich zu erkennen geben.
Im Zickzack führte der Pfad auf den Felsen hinauf. An jeder Kurve verschnaufte sie kurz, atmete ein paar Mal durch, um den Mut nicht zu verlieren und neue Kraft zu schöpfen. Als der Wind etwas stärker wurde und sie für den Bruchteil einer Sekunde den Halt verlor, wollte sie schon umkehren, schalt sich eine Närrin, weil sie sich aus unerklärlichen Gründen auf ein so gefährliches Abenteuer einließ, doch schon beim nächsten Schritt hatte sie ihre Sicherheit wiedergefunden. Wenn sie aufmerksam blieb, konnte ihr gar nichts passieren, und von dem Indianer hatte sie bestimmt nichts zu befürchten. Die Stämme hatten längst Frieden mit den Weißen geschlossen. Sie waren nicht im Wilden Westen, auch wenn sie mit einem Revolver in der Anoraktasche durch die Nacht kletterte und einem singenden Indianer auflauerte.
Direkt unterhalb des Plateaus, das sich auf dem Felsen ausbreitete, blieb sie stehen und blickte zögernd über den Rand hinweg. Der Indianer stand breitbeinig auf dem verschneiten Boden, streckte beide Arme zum Himmel empor und sang und betete so laut und monoton, wie sie es von Katholiken kannte. So verschieden waren Weiße und Indianer gar nicht. Im Mondlicht, das hier oben noch heller zu sein schien, erkannte sie, dass er die traditionelle Kleidung seines Volkes aus Tierfellen trug, von seiner Pelzmütze baumelten drei Federn, wahrscheinlich von einem Raben, dem heiligen Tier der nördlichen Stämme. Sein Gesicht war dem Mond zugewandt und deutlich zu erkennen.
»Matthew!«, rief sie überrascht.
Der Indianer war nicht darauf gefasst, einen anderen Menschen an diesem einsamen Ort zu treffen, schon gar nicht eine weiße Frau, und zuckte erschrocken zusammen. Eine Weile vermochte er überhaupt nichts zu sagen, dann nahm er die Arme herunter und flüsterte: »Clarissa … Was tust du hier?«
»Ich suche meinen Mann. Ich habe geträumt, dass es noch Hoffnung gibt und er vielleicht nach Norden geflohen ist.« Sie erwähnte seine gefährliche Krankheit nicht. »Ich weiß, dass er eigentlich tot sein müsste. Du hast mir den Ort gezeigt, an dem er gestorben sein soll. Aber ich hoffe auf ein Wunder.«
»Unser Medizinmann hat dir Hoffnung gemacht? Er ist alt …«
»… und weise«, ergänzte sie. »Es war mein Schutzgeist.«
»Dein Schutzgeist?«
Das Wort war ihr über die Lippen gerutscht, und sie wollte nicht näher darauf eingehen. Auch ein Indianer sprach nicht freimütig über seinen Schutzgeist. »Warum singst und betest du hier oben, Matthew?«, fragte sie stattdessen. »Und warum trägst du plötzlich die Kleidung deiner
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