Die Nacht der Wölfe
bin gleich wieder da.«
Sie war so in Gedanken, dass sie gar nicht merkte, wie die Tür aufging und Dolly ihr vollständig angezogen entgegenkam. Beinahe wäre sie mit ihr zusammengestoßen. »Dolly! Mein Gott, hast du mich jetzt erschreckt! Wo willst du denn hin? Warum bleibst du nicht im Bett und schläfst dich mal richtig aus?«
»Meinst du vielleicht, ich lasse dich allein nach Nome fahren?« Dolly schien fest entschlossen zu sein, sie zu begleiten. »Oder hast du keinen Platz mehr auf deinem Schlitten? Zu zweit sind wir doch viel schneller! Wir wechseln uns mit Fahren ab, und wenn du vor lauter Erschöpfung in den Schnee fällst, ziehe ich dich raus und koche dir frischen Tee. Was sagst du dazu?«
»Und wenn ich Nein sage?«
»Komme ich trotzdem mit«, erwiderte sie grinsend. »Spann schon mal die Hunde an, ich sage inzwischen Jerry Bescheid, dass er und seine Männer einen Monat ohne uns auskommen müssen. Wie unser Roadhouse aussehen soll, wissen sie ja. Ich stehe während des Baus sowieso nur im Weg.«
Clarissa blickte sie erstaunt an. »Und du traust den Burschen?«
»Und ob!« Dolly lächelte. »Während meiner Zeit in Dawson hab ich ein Gespür für Menschen entwickelt. Ich weiß sofort, ob ich jemandem trauen kann oder nicht, und das sind alles anständige Männer … obwohl sie Iren sind.«
»Besonders Jerry, nicht wahr?«
»Besonders Jerry«, bestätigte sie grinsend.
Während Dolly durch den Schnee zum Flussufer stapfte und Jerry aus dem Tiefschlaf holte, packte Clarissa genügend Decken und die beiden Schlafsäcke aus Rentierfell, die sie Indianern am Yukon abgekauft hatten, auf den Schlitten. »Immer mit der Ruhe!«, rief sie den Huskys zu, die es gar nicht abwarten konnten, in ihre Geschirre zu steigen. »Gleich geht es los!« Sie tätschelte jeden der Hunde, auch diejenigen, die zurückbleiben mussten, und ließ sich wie gewöhnlich etwas mehr Zeit mit Emmett. »Das wird eine lange Fahrt, Emmett«, sagte sie zu ihm, »also teilt euch eure Zeit gut ein. Jetzt müsst ihr zeigen, dass ihr auch lange Strecken gehen könnt.«
Als Dolly von den Männern zurückkehrte, stand Clarissa bereits abfahrbereit auf dem Trittbrett. »Alles klar«, versicherte ihr die Freundin, »wenn wir zurückkommen, ist das Roadhouse so gut wie fertig. Und um die zurückgebliebenen Hunde wollen sie sich auch kümmern. Der Holzfäller, mit dem du getanzt hast, kommt aus dem nördlichen Minnesota und hat selbst Huskys und einen Schlitten. Ich hab ihm erlaubt, mit meinem Schlitten zu fahren.«
»Und Jerry?«, fragte sie lächelnd.
»Will mich heiraten.«
»Wie bitte?«
»Sobald wir wieder hier sind, will er mir so lange um den Bart gehen und mich mit Geschenken überhäufen, bis ich ja sage. Und wenn er zehn Jahre darauf warten muss. Bei so einer Frau wie mir muss man zuschlagen, sagt er.«
»Wenn das kein Kompliment ist. Besonders die Sache mit dem Bart … Und? Was hast du geantwortet?«
»Dass ich selbst schon daran gedacht hätte … obwohl er Ire ist.«
Wenige Minuten später waren sie unterwegs, Clarissa auf dem Trittbrett und Dolly auf der Ladefläche zwischen Decken und Schlafsäcken. Sie schlugen den Trail ein, den Clarissa schon vor ein paar Tagen gefahren war, als sie in den Ausläufern der White Mountains nach Alex gesucht hatte, und kamen dank des guten Wetters zügig voran. Der Himmel war klar, lediglich weit im Norden verdunkelten einige Wolken die Sterne, und das Mondlicht hing sanft über den Wäldern und Tälern. Kälter war es geworden, empfindlich kalt sogar, sodass sie beide ihre Schals bis über die Nasen ziehen mussten und froh sein konnten, dass sich der Wind zurückhielt und nur leise in den Baumkronen rauschte. Der Schnee war verkrustet und knirschte unter den Schlittenkufen, er war den Hunden weniger lieb als feiner Pulverschnee, weil sie sich an den Eiskrusten leicht die Pfoten aufrissen. Nach einigen Meilen hielt Clarissa an und zog ihnen lederne »Schuhe« über die lädierten Pfoten, ein Trick, den sie von einem Indianer gelernt hatte und der sich schon oft bewährt hatte.
Ihre Hunde waren die booties gewöhnt und stemmten sich dankbar in die Geschirre. Meile um Meile legten sie zurück, beide Frauen schwiegen und hingen ihren Gedanken nach. Clarissas Gedanken kreisten nur um die winzige Hoffnung, ihren Mann vielleicht doch noch wiederzusehen, sich zumindest später nichts vorwerfen zu müssen. Und das zufriedene Funkeln in Dollys Augen verriet, dass Jerry einen noch stärkeren
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