Die Nacht der Wölfe
Vorfahren?«
»Es ist wegen … wegen …«
»Betty-Sue?«
Er nickte schüchtern, wirkte beinahe wie ein Junge, der zum ersten Mal über seine Freundin redete. Nur gebrauchte er andere Worte. »Betty-Sue hat meine Seele berührt. Als ich sie neben der kranken Frau unseres Häuptlings knien sah, wusste ich sofort, dass es nur diese eine Frau für mich geben würde. Ich habe mich lange dagegen gewehrt, aber jetzt weiß ich es bestimmt.«
»Und Betty-Sue liebt dich.«
Er nickte wieder. »Und wäre diese Welt so, wie sie in meinen Träumen besteht, würde ich sie in mein Haus holen und ein glückliches Leben mit ihr führen. Ich weiß, dass ich sie glücklich machen könnte. Aber in der wirklichen Welt würden wir immer Aussätzige bleiben. Solange die Weißen auf uns herabblicken, weil wir eine andere Hautfarbe haben und anders leben, und solange es Indianer gibt, die am liebsten in die Vergangenheit zurückkehren würden, kann es keine Zukunft für uns geben. Betty-Sue würde ihre Arbeit verlieren, und man würde sie wahrscheinlich mit Schimpf und Schande aus der Stadt jagen. Und ich müsste mein Dorf verlassen und allein mit ihr in der Wildnis leben. Wir dürften uns in keinem Handelsposten sehen lassen.«
»Betty-Sue weiß um die Probleme«, erwiderte Clarissa. »Ich habe lange mit ihr gesprochen. Aber sie ist jung und glaubt, stark genug zu sein, um diese Schwierigkeiten überwinden zu können. Ich habe gesehen, wie es manchen ausländischen Fischern in Vancouver ging. Auch von ihnen hätte niemand eine weiße Frau heiraten dürfen. Manche Menschen sind dumm.«
Matthew blickte in die Dunkelheit, unbeeindruckt von der Kälte und dem Wind, der an seiner Kleidung zerrte und die schwarzen Federn zittern ließ. »Ich habe es auf die Art der Weißen versucht, über unsere Zukunft nachgedacht und nach einer Lösung gesucht. Der Gott der Weißen konnte mir keine Antwort geben. Jetzt versuche ich es nach der Art unserer Vorfahren, wende mich mit Liedern und Gebeten an die Geister und erhalte ebenfalls keine Antwort. Ihr Schweigen sagt mir, dass es keine Zukunft für Betty-Sue und für mich geben kann.« Er seufzte enttäuscht. »Ich werde unser Dorf verlassen, Clarissa. Ich werde so weit nach Norden gehen, dass sie mich nicht findet. Ich will, dass sie glücklich wird. Ich kann nicht anders, ich muss sie verlassen.«
»Du bist sehr mutig«, meinte Clarissa anerkennend.
Sie wollte ihm eine Hand auf die Schultern legen, zum Zeichen, wie sehr sie seine Entscheidung schätzte, doch als sie erkannte, dass er von seinem Schmerz überwältigt wurde und den Tränen nahe war, verließ sie ihn mit einem kurzen Gruß und kehrte auf den Pfad zurück. Unterwegs kam ihr in den Sinn, dass Matthew eine ähnliche Entscheidung wie Alex traf, falls er noch am Leben war: Er floh nach Norden, um ihr den Schmerz einer beschwerlichen Zukunft zu ersparen. Zumindest für Matthew war es ein größerer Liebesbeweis, seine geliebte Betty-Sue zu verlassen, als bei ihr zu bleiben. Alex brauchte nicht zu fliehen, selbst wenn er verkrüppelt wäre und seinen Verstand verloren hätte. Niemand würde deshalb auf sie herabblicken. Oder doch? Sie hatte geschworen, für immer bei ihm zu bleiben, in guten wie in schlechten Tagen, und wenn er noch lebte, würde sie diesen Schwur auch einhalten. Ein Leben mit Alex wäre besser als Einsamkeit und Ungewissheit.
Dolly stand abseits des Feuers, den Revolver noch immer in der Hand, und nahm ihn erst herunter, als sie Clarissas Gesicht im Feuerschein erkannte. »Matthew«, sagte sie und erklärte ihr in wenigen Sätzen, warum der Indianer auf den Felsen gestiegen war und betete und sang. »Von wegen, Alaska ist ein freies Land. Auch hier hat die Freiheit ihre Grenzen. Ein Mann darf sich eine Indianerin oder ein leichtes Mädchen nehmen, aber heiraten darf er weder die eine noch die andere, und eine Frau wechselt am besten das Land, wenn man sie mit einem Indianer erwischt. Das wird sich wohl nie ändern.«
»Hast du eine Ahnung«, erwiderte Dolly. »Im alten England wäre es schon ein Verbrechen, wenn du einen Iren nur freundlich ansiehst, und in Irland wären sofort Steine geflogen, wenn ich Luther geheiratet hätte.« Sie kicherte leise. »Aber das wäre mir auch egal gewesen. Ich hab immer das gemacht, was mir in den Kram passte. Deshalb bin ich ja nach Amerika ausgewandert.«
Weil sie sowieso schon hellwach waren und auch die Hunde schon unruhig wurden, fuhren sie sofort weiter. Auf dem Yukon River war
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