Die Nacht der Wölfe
heißen. Wir sind für unseren Dauerregen berühmt.«
»In Vancouver war das Wetter auch besser, da wuchsen sogar Rosen«, erwiderte Clarissa. »Aber soll ich dir was sagen? Ich will trotzdem nicht mehr zurück. Ich liebe Alaska. Die Berge, die Wälder, die Seen und Flüsse … So viel Natur findest du nicht mal in Kanada. Diese Weite. Hier kannst du meilenweit durch die Wildnis ziehen, ohne einen anderen Menschen zu treffen. Und selbst wenn es noch einen und noch einen Goldrausch gibt, hier wird es nie zu viele Menschen geben. So muss die Welt am Schöpfungstag ausgesehen haben, hat mir mal jemand gesagt. Den Schnee und das Eis und die dunklen Winter, die hat der Herrgott doch nur geschaffen, damit es dem Paradies nicht zu ähnlich sieht. Stell dir vor, hier würde ständig die Sonne scheinen …«
»Nicht auszudenken!« Es klang sarkastisch. »Im Augenblick hätte ich jedenfalls nichts dagegen.« Sie raffte ihren Anorak am Kragen zusammen und wischte sich mit der freien Hand den Schnee aus dem Gesicht. »Meinst du, der Sturm dauert noch lange? Du hast deinen Leithund doch nicht belogen?«
Clarissa lachte. »Das würde ich doch niemals … Was hast du denn?«
Dolly starrte auf eine Stelle zwischen den Bäumen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Da liegt jemand … Verdammt, ich glaube, da liegt jemand.«
»Ein totes Tier?«
»Ein Mensch … Ich glaube, da liegt ein Mensch!«
Clarissa erstarrte. Ein Toter … Das konnte Alex sein, der sich schwerverletzt in den Wald geschleppt hatte und dort gestorben war. Oh nein, flehte sie in Gedanken, lass ihn nicht so qualvoll gestorben sein! Er darf es nicht sein!
Dolly erriet ihre Gedanken und näherte sich dem Toten, ihre rechte Hand berührte in der Tasche den Revolver. Noch bevor Clarissa sich entschlossen hatte, ihr zu folgen, erreichte sie den Toten und beugte sich zu ihm hinunter. »Ein Fremder!«, rief sie. »Er hat … Ich glaube … ich glaube, er wurde ermordet!«
Clarissa lief zu ihr und blickte auf den Toten hinab. Sie kannte ihn von der Beschreibung, die ihr der US Marshal gegeben hatte. »Hank Morgan«, sagte sie, »einer von Whittlers Männern. Frank Whittler hat ihn erschossen!«
28
Sie deckten die Leiche des Verbrechers mit Steinen zu, damit die wilden Tiere ihn in Ruhe ließen, und kehrten zum Schlitten zurück. Das Unwetter hatte inzwischen nachgelassen. Die dunklen Wolken waren nach Süden weitergezogen, und weder der Wind noch der Schnee machten ihnen noch zu schaffen. Am Himmel waren bereits wieder der Mond und die Sterne zu erkennen.
Jetzt stand Dolly auf dem Trittbrett, Clarissa machte es sich auf dem Schlitten bequem und hing in Decken gehüllt ihren Gedanken nach. Was für ein gemeiner Verbrecher war doch aus Frank Whittler geworden. Auch seinen zweiten Komplizen hatte er kaltblütig ermordet, nur um die gesamte Beute für sich behalten zu können, und niemand hätte jemals etwas von diesem Mord erfahren, wenn sie nicht zufällig auf seine Leiche gestoßen wären. Sobald sie Nome erreicht hatten, würde sie dem US Marshal darüber berichten.
Wie lange mochte der Tote schon dort gelegen haben? Clarissa war keine Expertin, und im eisigen Winterwetter war der Zeitpunkt des Todes ohnehin schwer zu bestimmen. Hatte Frank Whittler seine Komplizen kurz hintereinander ermordet, zuerst den einen und einigen Meilen flussabwärts den nächsten? Oder waren er und Morgan in einem Indianerdorf nördlich des Yukon untergekrochen und hatten erst vor Kurzem beschlossen, über den Yukon weiter flussabwärts zu ziehen? Wollte Frank Whittler etwa auch nach Nome?
Der Gedanke ließ sie selbst in ihrer warmen Kleidung erschaudern und ermahnte sie, die Augen stets offenzuhalten. Wenn Frank Whittler erst kürzlich wieder auf dem Yukon aufgetaucht war und tatsächlich nach Nome wollte, musste man damit rechnen, dass er irgendwo am Flussufer seine Nachtlager aufschlug und sie vielleicht auf dem Eis entdeckte. Sobald er erkannte, wen er vor sich hatte, würde er keine Hemmungen haben, sie beide zu erschießen.
Sie drehte sich zu Dolly um, die sicher auf dem Trittbrett stand und die Gegend im Blick behielt. »Wenn du willst, kehren wir um«, rief sie. »Könnte sein, dass Frank Whittler nur ein paar Meilen vor uns ist. Er ist ein eiskalter Bursche. Er würde uns beide erschießen … wenn nötig, aus dem Hinterhalt.«
»Ich hab keine Angst«, log Dolly, »da muss schon ein anderer kommen, um mich in die Knie zu zwingen. Ich halte die Augen offen, verlass dich
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