Die Nacht der Wölfe
Dolly war aus ihrer Koje gekrochen und hatte sich in eine Decke gehüllt. »Weißt du, was das heißt? Der Norden von Alaska ist größer als Kalifornien! Ach, was sage ich … größer als das gesamte Yukon Territory! Da findest du ihn nie! Genauso gut könntest du nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen suchen. Sei doch vernünftig! Wahrscheinlich ist er sowieso tot, aber wenn du wirklich recht hättest, wenn er tatsächlich noch am Leben wäre, hält er sich bestimmt so gut versteckt, dass ihn niemand finden kann.«
Clarissa kehrte in den Wohnbereich zurück und begann sich anzuziehen, ihre warme Unterwäsche, die wollenen Strümpfe. »Nome«, sagte sie, »er hat öfter mal von Nome gesprochen. Dort wären die Bäume so klein, dass sie uns gerade mal bis zu den Knöcheln reichen, und der Boden wäre das ganze Jahr gefroren. Wenn du mit einer Schaufel in den Boden stichst, stößt du schon auf festes Eis, sogar im Sommer. Die Tundra, so nennen sie die Gegend da oben … die wollte er unbedingt mal sehen. Vielleicht ist er in Nome, Dolly.«
»In Nome?«, erwiderte Dolly ungläubig. »Da hat gerade ein neuer Goldrausch begonnen, schon vergessen? Da geht es wilder zu als damals in Skaguay oder in Dawson. Alex hatte doch nie was für Städte übrig. So wie ich ihn kannte, würde er es in einer Stadt wie Nome keine Stunde aushalten …«
»Aber es ist die einzige Stadt im Norden. Wenn er Vorräte oder neue Patronen braucht, muss er irgendwann dort auftauchen. Die Indianerdörfer im Inland kann ich nicht alle abklappern, das würde ein paar Jahre dauern, aber auch die Indianer kommen öfter in die Stadt und wissen bestimmt, ob sich ein kranker weißer Mann in einem ihrer Dörfer aufhält. Ich muss es versuchen!«
»Du willst nach Nome?« Dolly konnte es noch immer nicht glauben.
»Soll ich vielleicht hier rumsitzen und darauf warten, dass mir irgendwer erzählt, mein Mann wäre in einem Indianerdorf im fernen Norden gestorben? Mag sein, dass ich verrückt spiele und Alex tatsächlich in der Spalte liegt, aber ich will mir später nichts vorwerfen müssen. Ich muss es versuchen.«
»Jetzt gleich? Mitten in der Nacht?«
Clarissa schlüpfte in ihre festen Winterstiefel und griff nach ihrem Anorak. »Ich will keine Zeit verlieren, und wann ich fahre, spielt doch keine Rolle, hier ist es sowieso die meiste Zeit dunkel. Schlafen kann ich nicht mehr. Du kommst doch ohne mich aus, oder?« Sie hielt inne und blickte die Freundin erschrocken an, als wäre ihr die Frage erst jetzt in den Sinn gekommen. »Ich weiß, ich sollte eigentlich bei dir bleiben, aber solange die Männer das Roadhouse bauen, kann ich sowieso nichts tun … Es könnte einen Monat dauern, Dolly, vielleicht sogar länger. Bis Nome brauche ich eine Woche, wenn das Wetter hält, und wenn ich mich da oben umhören will … Ich weiß, ich lasse dich im Stich, aber ich kann nicht anders. Ich muss einfach fahren, Dolly!«
Dolly beruhigte sie mit einem Lächeln. »Mach dir deswegen keine Sorgen, Clarissa! Die paar Wochen komme ich schon allein zurecht, und die eigentliche Arbeit beginnt ja sowieso erst, wenn das Roadhouse steht.« Sie setzte sich auf dem Stuhl beim Ofen, immer noch etwas zerzaust von der langen Feier am Lagerfeuer und dem plötzlichen Erwachen. »Aber mach dir nichts vor, Clarissa. Du weißt hoffentlich, dass die Chance auf ein Wunder klein ist.«
»Und wenn sie noch so klein ist, Dolly.« Sie wollte ihrer Freundin nicht von Bones erzählen, sonst hätte Dolly wohl endgültig an ihrem Verstand gezweifelt, aber gerade aus seinem Verhalten zog sie die meiste Hoffnung. Er war nicht umsonst dem Nordstern gefolgt. Er wollte, dass sie nach Norden fuhr und dort nach Alex suchte, selbst wenn auch er ihr nicht garantieren konnte, dass er noch am Leben war. Aber Bones hatte einen Grund gehabt, ihr ein so deutliches Zeichen zu geben, irgendetwas wartete im Norden.
Clarissa hatte inzwischen ihren Proviant in dem Vorratssack verstaut und trug ihn nach draußen, brachte ihn am Schlitten an und begrüßte ihre Huskys, die sofort hellwach waren und zu spüren schienen, dass eine längere Tour bevorstand. »Ganz recht«, rief sie ihnen zu, »wir gehen auf große Fahrt. So wie bei einem dieser großen Schlittenrennen. Wir fahren nach Nome! Wisst ihr, wo das liegt? Weit im Norden, an der Eismeerküste. Da gibt es keine hohen Bäume mehr, und ihr könnt nach Herzenslust laufen.« Sie schloss die Riemen des Vorratssackes und wandte sich dem Haus zu. »Ich
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