Die Nacht der Wölfe
und war umgekehrt, er hatte es vielleicht versucht, aber nicht fertiggebracht, seinem Leben ein Ende zu setzen, und jetzt schleppte er sich nach Hause, um sich von dem Professor in Anchorage operieren zu lassen. Eine winzige Chance nur, aber die wollte er ergreifen, um wirklich alles versucht zu haben, was in seiner Macht stand.
»Alex!«, wollte sie rufen. »Alex! Hier bin ich!« Doch über ihre Lippen kam nur ein Flüstern, bis das Bild wieder verschwand und sie wieder allein mit der Dunkelheit und der Stille war. Zögernd öffnete sie die Augen und sah Dollys Gesicht über sich, ihr erleichtertes Lächeln. Sie vernahm ihre Stimme, zuerst nur leise und gedämpft und dann laut und deutlich: »Da bist du ja endlich! Verdammt, und ich dachte schon, ich müsste dich zu Charly auf den Schlitten packen und nach Hause fahren. Wie geht es dir? Geht es wieder?«
»Alex … Ich habe Alex gesehen …«
»Du hast geträumt, Clarissa. Ist ja kein Wunder bei dem Eisbrocken, den du an den Kopf bekommen hast. Das wird eine mächtige Beule, kann ich dir sagen, die Leute in Fairbanks werden dich gar nicht erkennen. Alles okay?«
»Alex … Er war es wirklich, Dolly!«
»Vielleicht in deinem Traum. Tut mir leid, ich würde dir gern was anderes sagen, aber warum soll ich dir was vorlügen? Er ist tot, Clarissa. Natürlich träumst du von ihm, und jeden Morgen hoffst du, dass er zur Tür reinkommt und dich in die Arme schließt. So ging’s mir auch … Wochenlang. Hier war nur der Blizzard, und das Abenteuer hätte ich mir gern erspart, aber während du von Alex geträumt hast, hat sich der Sturm verzogen, und wir können endlich weiter. Sieh nur, was er angerichtet hat. Haufenweise Schnee, und unsere Decken liegen irgendwo auf dem Eis. Was ist mit dir … Immer noch groggy?«
»Ein bisschen«, antwortete Clarissa. Sie stemmte sich auf einen Ellbogen und wartete, bis sich der plötzliche Schmerz, der mit der Bewegung gekommen war, wieder einigermaßen legte und nur noch das Rumoren blieb, das sie schon vorher gespürt hatte. Sie betastete vorsichtig ihre Stirn. Schon jetzt war die große Beule zu spüren, die wohl später noch anwachsen würde. Kein Problem, solange sie bei vollen Kräften war und alle Sinne beisammen hatte. »Emmett! Wie geht es euch?« Sie blickte Dolly an. »Sind die Hunde okay?«
Dolly lachte. »Die können es gar nicht erwarten, wieder loszurennen. Und Charly hat den Sturm auch überlebt. Ich habe ihm noch etwas Salbe auf die Wunde geschmiert. Er liegt schon auf dem Schlitten. Bist du schon so weit?«
»Ich glaube schon«, antwortete Clarissa, »aber es ist wohl besser, wenn du die nächste Etappe übernimmst und ich mich mit Charly auf dem Schlitten ausruhe. Heißer Tee wäre jetzt nicht schlecht … und ein Stück Schokolade.«
Dolly hatte die restlichen Decken bereits auf den Schlitten gepackt, und auch Charly lag schon bereit. »Die Schokolade ist leider alle, und den heißen Tee gibt’s in ungefähr drei Stunden. Erinnerst du dich an die Höhle, in der wir auf dem Hinweg übernachtet haben? Ich hatte Angst vor einem Bären …«
»… und ich wusste gleich, dass sich ein ausgewachsener Bär nicht mit einem besseren Unterstand zufriedengibt. Natürlich erinnere ich mich daran.«
»Dort koche ich dir den besten Tee, den du je getrunken hast … einen Zaubertrank. Selbst mein Luther, Gott hab ihn selig, wollte kaum noch Alkohol trinken, nachdem er ihn gekostet hatte.« Sie musste lachen. »Okay, das war gelogen, aber die Leute in meinem Roadhouse waren alle begeistert. Du wirst sehen, schon nach dem ersten Becher hast du keine seltsamen Träume mehr.«
Clarissa war ihrer Freundin dankbar, dass sie immer wieder versuchte, sie aufzuheitern und ihr über den Tod von Alex hinwegzuhelfen, aber als sie auf dem Schlitten saß und sie weiter durch die Nacht fuhren, kehrten die Bilder aus ihrem Traum zurück, und sie fragte sich unwillkürlich, ob sie eine besondere Bedeutung hatten. Es war der gleiche Traum, den auch der Medizinmann der Indianer und der Häuptling der Yupik gehabt hatten, ein Mann zieht einsam und allein durch die verschneite Wildnis. Nur dass dieser Mann in ihrem Traum keinen Hundeschlitten mehr hatte und ihre Richtung lief.
Gab es vielleicht doch noch Hoffnung?
36
Ihr letztes Lager auf dem Yukon River schlugen sie an der gleichen Stelle wie auf dem Hinweg auf. Im Schnee waren sogar noch die Spuren ihres kleinen Feuers zu erkennen. Sie errichteten einen Unterstand aus Ästen und
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