Die Nacht der Wölfe
ohne aufzublicken.
Louise stöhnte leise, sie schien den Schmerz auch in ihrer Bewusstlosigkeit zu spüren. Lange würde das Betäubungsmittel nicht mehr wirken. Ihre Eltern blickten Betty-Sue nervös an und hielten ihre Tochter noch fester, als sie sich unter ihren Händen regte. Clarissa wechselte die Lampe von einer Hand in die andere und zeigte sich ebenfalls besorgt, griff rasch nach einem Lappen, als Betty-Sue ihr die schweißbedeckte Stirn entgegenhielt. »Noch ein Versuch«, sagte die Schwester, »wenn ich es dann nicht schaffe …« Sie musste den Satz nicht beenden, um Clarissa klarzumachen, wie gefährlich die Aktion war.
Noch einmal beugte sich Betty-Sue über das verletzte Mädchen. Sie tupfte das Blut von der Wunde und drang noch einmal mit der Pinzette hinein, suchte verzweifelt nach der Kugel und bekam sie endlich zu fassen. Vorsichtig zog sie das Projektil heraus und ließ es auf den Untersetzer der Lampe fallen.
»Geschafft!«, flüsterte sie erleichtert. Sie desinfizierte die Wunde und legte einen festen Verband an, wischte dem Mädchen den Schweiß von der Stirn und deckte es behutsam zu. »Sie braucht jetzt vor allem Ruhe. Wenn sich die Wunde nicht entzündet und sie kein Fieber bekommt, hat sie das Gröbste überstanden.« Sie wischte die Pinzette trocken und legte sie in das Kästchen zurück. Ihre Miene war immer noch besorgt. »Wenn wir dürfen, bleiben wir bis morgen hier, dann kann ich noch mal nach ihr sehen. Ich lasse sie ungern allein.« Sie blickte Clarissa hoffnungsvoll an. »So viel Zeit haben wir doch?«
»Wenn der Häuptling nichts dagegen hat?« Clarissa reichte die Lampe einem jungen Mann und blickte den Mann mit den langen Zöpfen fragend an.
»Sie sind willkommen«, erwiderte Dan Short Hand, »und nicht nur Louise und ihre Eltern, das ganze Dorf ist Ihnen dankbar für alles, was Sie für das Mädchen getan haben. Nicht jeder Weiße würde mitten in der Nacht für eine Indianerin aufstehen und mit dem Hundeschlitten durch den Wald fahren.«
»Das haben wir doch gern getan.« Clarissa tauschte einen Blick mit Betty-Sue, die mit gerötetem Gesicht neben ihr stand und ihre Zustimmung durch ein leichtes Nicken kundtat. »In der Goldgräberstadt war es viel zu laut.«
Jetzt lächelte auch der Häuptling. »Sie haben eine weiße Haut und sind doch schon wie wir. Sie leben zu lange in den Wäldern.« Sein Blick wanderte zu Betty-Sue weiter. »Aber die Schwester ist erst seit ein paar Tagen hier, und wenn ich in ihre Augen sehe, erkenne ich noch Angst und Unbehagen. Umso größer ist unsere Dankbarkeit und unser Respekt.« Er verneigte sich vor ihr. »Ich würde mich freuen, wenn sie die heilige Pfeife mit uns rauchen würde.«
Betty-Sue wusste nicht, was diese Einladung bedeutete, und wandte sich an Clarissa. »Eine große Ehre«, bekam sie zur Antwort, »eine Geste, die den Respekt vor einem besonders willkommenen Gast ausdrückt.« Sie bedankte sich bei dem Häuptling. »Wir nehmen die Einladung gerne an.«
Nur der Häuptling, der Vater des Kindes und einige ältere Männer des Dorfes versammelten sich im Wohnraum, als der Häuptling den Tabak in seiner heiligen Pfeife entzündete. Der Medizinmann gesellte sich nur zögernd dazu. Er schien ein wenig eifersüchtig auf Betty-Sue zu sein und setzte sich erst, als der Häuptling ihm einen warnenden Blick zuwarf. Anders als in den Buffalo-Bill-Heften, die Clarissa so gerne las, saßen sie auf Stühlen, und Dan Short Hand verwendete einen Tabak, den er im Handelsposten gekauft hatte.
Während der Häuptling umständlich seine Pfeife stopfte, blickte Clarissa auf den zugezogenen Vorhang des Schlafbereiches. Die Mutter war bei ihrer kranken Tochter geblieben und hielt die erste Nachtwache. Clarissa hätte gern gewusst, wer auf das Mädchen geschossen hatte, und konnte es kaum erwarten, den Häuptling danach zu fragen. Doch die Etikette schrieb vor, dass man die Regeln der Pfeifenzeremonie einhielt und zuerst über belanglose Dinge sprach, bevor man sich an so wichtige Themen wagte. Mit der Tür ins Haus zu fallen, wie ein Sprichwort der Weißen sagte, wäre unhöflich gewesen.
Der Häuptling entzündete den Tabak mit einem glühenden Holzspan, blies den Rauch zum Himmel, zur Erde und in die vier Richtungen und bedankte sich beim Schöpfer für die Gnade, auf dieser Erde leben zu dürfen. »Während der letzten Winter haben wir viel Leid erfahren müssen, und zu viele unserer Brüder und Schwestern starben an den Krankheiten, die
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