Die Nacht der Wölfe
Bettrand. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Louise, nicht wahr? Ich bin Schwester Betty-Sue. Ich hab gehört, jemand hat auf dich geschossen. Es tut sehr weh, nicht wahr?« Sie beugte sich lächelnd nach vorn. »Keine Angst, das kriegen wir wieder hin. Ich hole dir die Kugel raus, dann geht es dir bald wieder gut. Ich hab das schon sehr oft gemacht, weißt du?«
Sie drehte sich zu Henry Eagle um, der ein paar Schritte hinter ihr stand, und verlangte heißes Wasser und einen sauberen Lappen. Sobald der Indianer beides gebracht hatte, säuberte sie die Wunde vorsichtig. Aus der Öffnung quoll dunkles Blut. »Siehst du?«, sagte sie zu Louise. »Jetzt sieht es schon nicht mehr ganz so schlimm aus.« Sie reichte den blutverschmierten Lappen dem Indianer und drehte sich zu Clarissa um. »Sie müssen mir helfen … Ich brauche Licht. Und Sie …« Sie blickte die Eltern des Mädchens an. »Sie müssen Louise festhalten. Ich kann sie nur leicht betäuben und möchte nicht, dass sie sich plötzlich bewegt. Schaffen Sie das? Sie verstehen mich doch, oder?«
»Wir verstehen Sie«, antwortete der Mann ein wenig trotzig, »wir sprechen beide Englisch.« Er sprach beinahe akzentfrei. »Wir halten sie fest. Können Sie … glauben Sie, dass Sie die Kugel herausbekommen? Sie steckt sehr tief.«
Das hatte Betty-Sue auch schon bemerkt und ihre Stirn vielleicht deshalb in Falten gelegt. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Keine Angst, das schaffe ich. In San Francisco hatten wir ganz andere Fälle.« Sie verschwieg ihm, dass im Golden Gate Memorial stets ein Arzt operiert und sie lediglich assistiert hatte. »Clarissa … kommen Sie zu mir! Halten Sie die Lampe so, dass ich die Wunde sehen kann. Ja … so ist es gut … Noch ein bisschen näher vielleicht …«
Clarissa ging auf der rechten Seite des Bettes in die Knie und hielt die Lampe schräg über das Mädchen. Im flackernden Licht sah die Schusswunde noch hässlicher aus, und die Haut der Verletzten wirkte so blass wie bei einer Toten. Die Augen des Mädchens waren auf Betty-Sue gerichtet und verfolgten nervös, wie die Schwester ihre Arzttasche öffnete und den Kasten mit den Instrumenten aufs Bett legte. Ihre Eltern waren bereits nahe bei ihrer Tochter, die Mutter am Kopf- und der Vater am Fußende, und versuchten ihr Mut zu machen.
Betty-Sue ließ sich einen weiteren sauberen Lappen von Henry Eagle reichen und beugte sich über das Mädchen. »Hab keine Angst!«, sagte sie noch einmal, wieder mit einem Lächeln. Sie zog eine kleine Flasche aus der Tasche. »Ich kann nämlich zaubern, weißt du? Wenn ich ein paar Tropfen von diesem Zaubermittel auf diesen Lappen gebe ….« Sie feuchtete den Lappen mit dem Narkosemittel an. »… und ihn dir auf die Nase drücke, schläfst du sofort ein, und wenn du wieder aufwachst, ist alles vorbei. Na, was hältst du davon? Soll ich dich verzaubern?« Noch bevor das Mädchen nicken konnte, drückte ihm Betty-Sue den Lappen aufs Gesicht, und es schlief augenblicklich ein.
»Keine Angst«, beruhigte Betty-Sue die Eltern, »ich habe sie nur leicht betäubt.« Sie nahm eine Pinzette aus dem Kasten und säuberte sie mit einem Desinfektionsmittel. »Mehr Licht!«, sagte sie, ohne Clarissa anzublicken.
Sie atmete einmal tief durch und machte sich an die Arbeit. Mit den Fingern der linken Hand zog sie die Wundränder auseinander, mit der Pinzette in der rechten drang sie behutsam in den Wundkanal und suchte nach der Kugel. Clarissa verfolgte erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit und Ruhe sie arbeitete. Statt in einem abgelegenen Indianerdorf in der tiefsten Wildnis hätte sie genauso gut in einem Operationssaal in San Francisco sein können, so konzentriert und gewissenhaft ging sie vor. Bei der Arbeit schien sie alles um sich herum zu vergessen. Ihre Hände zitterten kein bisschen, während sie immer tiefer in die Wunde drang und verzweifelt nach dem Projektil suchte.
»Die Kugel steckt tiefer, als ich dachte«, sagte sie so leise, dass es nur Clarissa verstand. In ihren Worten schwang die unausgesprochene Befürchtung mit, dass das Projektil zu nahe an der Halsschlagader oder einem wichtigen Organ lag und sie abbrechen und Louise zu einem Spezialisten bringen musste. Nicht einmal Doc Boone würde sich an eine solche Operation heranwagen.
»Sie schaffen es!«, machte Clarissa ihr Mut. »Ich weiß, dass Sie es schaffen! Ich habe noch nie eine Schwester gesehen, die so viel kann wie Sie.«
»Das täuscht, Clarissa«, erwiderte sie,
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