Die Nacht der Wölfe
Jacke über und trat in die Kälte hinaus. Inzwischen war es vollkommen finster geworden, und in einem der Saloons hatte man bereits die Lampen gelöscht. Im anderen war zumindest das Klavier verstummt. Der Wind hatte etwas aufgefrischt und brachte noch kältere Luft aus dem Norden heran, und am Himmel waren Wolken aufgezogen und verdeckten den Mond und die Sterne. »Hey, Buster! Alles in Ordnung bei euch?«, fragte sie den Leithund. Die Huskys lagen zusammengerollt im Schnee und genossen die Kälte. »Bis morgen früh!«
Als Clarissa in die Baracke zurückkehrte, lag Betty-Sue angezogen auf dem Bett und schlief fest. Sie schnarchte tatsächlich leise. Clarissa zog sich bis auf die Unterwäsche aus, legte sich daneben und deckte sie beide mit mehreren Decken zu. Sie konnte nicht schlafen. Nach der Ablenkung, die Schwester Betty-Sues Sprechstunde gebracht hatte, waren ihre Gedanken wieder bei Alex und begleiteten ihn durch die Wildnis. In der Dunkelheit glaubte sie zu sehen, wie er entschlossen seine Huskys antrieb, den Marshal und die anderen Männer des Aufgebots überholte und plötzlich allein durch dichtes Schneetreiben fuhr. Ein Schuss peitschte durch die eiskalte Nacht.
Clarissa schreckte aus dem Halbschlaf und starrte entsetzt in die Dunkelheit. Sie brauchte länger als eine Minute, um zu erkennen, was jemand mit der Faust gegen die Tür schlug und etwas rief, dass sie nicht verstand. Sie stieg aus dem Bett, zog sich notdürftig an und eilte zur Tür. »Ja … wer ist da?«
»Sind Sie das, Schwester Betty-Sue? Hier ist Henry Eagle aus dem Indianerdorf am Gold Creek! Man hat auf meine Schwester geschossen! Sie hat eine Kugel in der Brust! Kommen Sie schnell! Ich habe Angst, dass sie stirbt!«
Clarissa war sofort hellwach. Sie kannte Henry Eagle und auch seine Schwester, die junge Louise. Sie war zwölf oder dreizehn und beim letzten Tanzfest zur Prinzessin gekürt worden. Hastig öffnete sie die Tür. »Ich bin’s, Henry! Clarissa Carmack, die Frau des Fallenstellers! Wir kommen sofort!«
Sie drückte die Tür wieder zu und weckte die Schwester. »Aufwachen, Betty-Sue! Wir müssen sofort weiter! Ich erkläre Ihnen alles unterwegs. Kommen Sie!« Sie half ihr aus dem Bett und reichte ihr Pelzjacke, Mütze und Handschuhe. »Ein Notfall, Betty-Sue! Schusswunde … ein junges Mädchen im Indianerdorf! So was sind Sie doch sicher aus San Francisco gewöhnt, oder?«
Betty-Sue schien nicht zu wissen, wo sie sich befand. »Aber … ich …«
»Kommen Sie!«, sagte Clarissa wieder.
5
Der böige Wind, der außerhalb der Stadt über den Trail wehte, vertrieb auch die letzte Müdigkeit aus Clarissa und Betty-Sue. Eisige Schleier hüllten sie ein, und in dem dichten Fichtenwald, durch den sie wenig später fuhren, klatschte Schnee von den Bäumen und fand auch bei hochgestelltem Kragen einen Weg bis auf die nackte Haut. Selbst Betty-Sue, die in mehrere Decken gehüllt auf der Ladefläche saß, blieb davon nicht verschont. Einmal traf sie der Schnee mitten ins Gesicht und entlockte ihr einen entsetzten Schrei. Sie fuhr sich mit dem Ärmel über die Haut und fluchte ungehörig.
Clarissa hätte nicht geglaubt, dass Betty-Sue überhaupt zu einem Fluch fähig war, und grinste still in sich hinein. Auch ihr machte die Witterung zu schaffen. Sie blieb mit ihrem Schlitten dicht hinter dem Indianer und hatte wie er mit dem verharschten Schnee zu kämpfen, den seine Hunde und die Kufen seines Schlittens aufwirbelten. Bis zu seinem Dorf waren es nur wenige Meilen, hatte er ihnen vor der Abfahrt zugerufen, doch der Trail war anspruchsvoll und kurvenreich und die Nacht so dunkel, dass es ihrer vollen Konzentration bedurfte, um nicht vom Weg abzukommen. Buster war kein besonders erfahrener Leithund und hatte Schwierigkeiten, seine Artgenossen zu führen.
Henry Eagle hatte es eilig. Ohne sich darum zu kümmern, dass Clarissa ein langsames Hundegespann vor dem Schlitten hatte und es kaum schaffte, mit ihm Schritt zu halten, trieb er seine Huskys an. Er kannte den Trail zwischen Fox und seinem Dorf von vielen Jagdausflügen und fand sich auch in der fast vollkommenen Dunkelheit zurecht. Nur der Helligkeit, die der Schnee zwischen den Bäumen reflektierte, verdankte es Clarissa, dass sie überhaupt etwas sah. In der Eile hatten weder der Indianer noch sie daran gedacht, eine Fackel mitzunehmen. Seiner Schwester musste es so schlecht gehen, dass er nur noch daran dachte, wie er ihr am schnellsten helfen konnte. Wer hatte der
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