Die Nacht der Wölfe
Indianerin bloß diese Schusswunde beigebracht? Wer schoss auf ein Mädchen? Clarissa konnte sich eine Antwort vorstellen, wagte aber nicht mal daran zu denken.
Das Indianerdorf lag in einer Senke des Gold Creek, eines bisher namenlosen Flusses, den alle Goldgräber so nannten, seitdem man einen großen Nugget in seinem Wasser gefunden hatte. Die bewaldeten Hügel am jenseitigen Ufer boten Schutz vor dem eisigen Nordwind. Zwei Blockhäuser, ungefähr so groß wie die Hütte, in der Clarissa und Alex wohnten, und einige Zelte und barackenähnliche Unterkünfte erhoben sich zwischen den Fichten und kahlen Laubbäumen, die auch am südlichen Ufer den Wind abschwächten. Die wenige Helligkeit, die vom Schnee und dem vereisten Fluss reflektiert wurde, ließ das Dorf in einem eigenartigen Licht erscheinen, das durch die gespenstische Stille, die über der Senke lag, noch verstärkt wurde.
Das einzige Anzeichen für Leben in dem Dorf waren die erleuchteten Fenster des einen Blockhauses und der Rauch, der aus den Kaminen und Ofenrohren stieg. Unter den Kufen staubte der Schnee, als Clarissa und der Indianer in die Senke hinabfuhren und vor der Hütte mit den hellen Fenstern hielten. Betty-Sue, an Notfälle gewöhnt und inzwischen wieder hellwach, sprang mit ihrer Arzttasche vom Schlitten und war noch vor Clarissa an der Tür. Bedrückt folgten sie dem Indianer ins Innere der Hütte.
Im einzigen Wohnraum drängten sich die Menschen. Ungefähr zwanzig Männer, Frauen und Kinder saßen auf den wenigen Stühlen oder auf dem Boden, die Gesichter wirkten im unruhigen Licht der beiden Petroleumlampen wie versteinert, und blickten hoffnungsvoll zur Tür, als Henry Eagle und die beiden weißen Frauen den Raum betraten. Der eisige Luftschwall, der mit den Neuankömmlingen in die Hütte zog, schien sie kaum zu stören. »Zur Seite!«, bahnte der junge Indianer der Schwester einen Weg zum Schlafbereich.
Die Decken, die vor den Betten und Matratzen über einem quer durch den Raum gespannten Seil hingen und sie vom Wohnzimmer und der Küche trennten, waren zur Seite gezogen. Der eintönige Singsang des Medizinmannes, begleitet vom rhythmischen Rasseln eines mit Steinen gefüllten Schildkrötenpanzers, schallte ihnen entgegen. Der weißhaarige Mann, in eine bunte Decke gehüllt und mit einem ausgestopften Raben und mehreren Federn auf dem Kopf, trat widerwillig zur Seite, als Betty-Sue den Schlafbereich betrat.
Beim Anblick der verletzten Louise, die mit kreidebleichem Gesicht auf einem der Betten lag, erschrak Clarissa. Ihr Kleid war am Hals aufgerissen und gab den Blick auf eine dunkelrote Schusswunde frei. Auf dem Gesicht des Mädchens stand Schweiß, die Augen waren stumpf und leer. Im Schein der Petroleumlampe, die neben dem Betten auf einer Kommode stand, hockten ein Mann und eine Frau, anscheinend die Eltern der Verletzten, und hielten ihre rechte Hand. Hinter ihnen stand ein älterer Mann mit langen Zöpfen, der Häuptling des Dorfes, wie sich später herausstellte. Die Augen aller Anwesenden waren hoffnungsvoll, aber auch fragend auf Betty-Sue gerichtet.
»Das ist Schwester Betty-Sue«, stellte Henry Eagle die Vertreterin des Doktors vor. »Doc Boone kann nicht kommen, auch bei den Weißen in Fox war er nicht. Sie ist eine gute Medizinfrau, das weiß ich von einem unserer Männer, die in Fox für die Weißen arbeiten.« Er blickte Clarissa an. »Und das ist Clarissa Carmack, die Frau eines Fallenstellers. Ihr kennt sie vielleicht.«
Clarissa fand es bemerkenswert, dass sich keiner der Indianer gegen Betty-Sue wandte oder sich darüber beschwerte, nicht den Doktor am Krankenbett des Mädchens zu sehen. Wie sie wusste, gab es etliche Medizinfrauen bei den Indianern, die sich mit Kräutern und anderen Heilmitteln auskannten und sogar von den Medizinmännern geschätzt wurden. Dass Betty-Sue weiß war, störte auch keinen. Die Indianer hatten längst erkannt, dass sie nur in friedlicher Gemeinschaft mit den Weißen überleben konnten. Häuptling Dan Short Hand arbeitete schon seit vielen Jahren mit den Weißen zusammen, und zahlreiche seiner Männer handelten mit den Goldgräbern in Fox und Fairbanks.
Die Mutter des Mädchens, eine junge Frau mit schulterlangen Haaren und einem breiten Gesicht, hatte Tränen in den Augen. »Helfen Sie unserer Tochter!«, flehte sie Betty-Sue mit gefalteten Händen an. »Bitte … helfen Sie ihr!«
Betty-Sue befreite sich von ihrer Winterkleidung und setzte sich neben das Mädchen auf den
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