Die Nacht der Wölfe
verschwunden, nahm er sein gewohntes Tempo wieder auf. »Das machst du großartig, Emmett!«, rief ihm Clarissa zu. »Ich bin stolz auf dich.«
Nach drei Stunden, am Rand einer kleinen Lichtung inmitten eines lichten Waldes mit Schwarzfichten und kahlen Laubbäumen, legte sie eine kurze Rast ein. Sie trank von dem Tee, den sie in einer Feldflasche mitführte, und lächelte zum ersten Mal, seitdem ihre Huskys mit dem Schlitten zurückgekehrt waren, als sie die zwei Schokokekse fand, die Alex übrig gelassen hatte. Sie aß alle beide und spülte sie mit Tee hinunter. Hungriger war sie im Augenblick nicht. Die bedrohlichen Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, hatten ihr den Appetit genommen und ließen sie kaum zur Ruhe kommen.
Sie wollte gerade den Anker aus dem Schnee ziehen, als Emmett nervös an den Leinen zerrte. Zuerst glaubte sie, er wäre nur ungeduldig und wollte so schnell wie möglich weiterlaufen, doch seine Haltung war eher unterwürfig, ungewohnt ängstlich für einen Husky, der eigentlich vor Selbstbewusstsein strotzen musste. Er machte sich so klein wie möglich und klemmte den Schweif zwischen die Beine, hätte sich wohl am liebsten im Schnee verkrochen. Die anderen Huskys folgten seinem Beispiel, waren noch ängstlicher und jaulten. »Was habt ihr denn?«, fragte sie. »Irgendwas nicht in Ordnung?«
Ihr Bauchgefühl, das sie während der langen Jahre im Hohen Norden entwickelt hatte, ließ sie nach rechts blicken. Am Ufer des zugefrorenen White Creek, der sich durch die Senke wand und im trüben Tageslicht bläulich glänzte, bewegte sich ein dunkler Schatten. Clarissa glaubte an einen weiteren Elch, doch als sie genauer hinsah, erkannte sie den mächtigen Grizzly, der sich schon seit einigen Tagen in ihrer Gegend herumtrieb und nichts von einem ausgedehnten Winterschlaf zu halten schien. Leichter als andere Bären ließ er sich in seiner Winterruhe stören und sogar aus seinem Versteck treiben, eine Gefahr für alle Menschen, denen er bei seinen Ausflügen begegnete.
Clarissa hatte den Grizzly und Alex’ Warnung, ihm aus dem Weg zu gehen, schon lange vergessen und blickte erschrocken auf das riesige Raubtier, das sich allerdings mit erstaunlicher Leichtigkeit durch den Schnee bewegte. Obwohl er mindestens eine halbe Meile entfernt war, beobachtete sie, wie sich die kräftigen Muskeln des Tieres bei jedem Schritt bewegten. Das letzte Tageslicht ließ sein graues, beinahe silbernes Fell hell schimmern. Ein schönes, aber auch ein äußerst gefährliches Tier, wenn man ihm die Quere kam und er sich in die Enge getrieben fühlte. Und wenn er so großen Hunger hatte, dass er auch vor einem Angriff auf einen Menschen nicht zurückschreckte.
»Ruhig, Emmett!«, beruhigte sie den Leithund. »Der tut uns nichts, der ist viel zu weit entfernt. Bis der hier oben ist, sind wir schon drei Meilen weiter.«
Doch anstatt den Anker aus dem Schnee zu ziehen und weiterzufahren, blieb sie stehen. Ihre rechte Hand berührte den Revolver in ihrer Anoraktasche, jederzeit bereit, ihn herauszuziehen und in Anschlag zu bringen, falls der Grizzly in ihrer Nähe auftauchte, obwohl sie doch wissen musste, dass sie mit einem Revolver nur geringe Chancen gegen ein so mächtiges Raubtier hatte. Die Kugel musste ihn schon sehr genau treffen, wenn sie helfen sollte.
Der Wind trug ihre Witterung in die Senke hinab und erreichte den Grizzly an einer Flussbiegung, ließ ihn nervös innehalten und in ihre Richtung blicken. Sein mächtiger Schädel wankte hin und her. Sein Maul öffnete sich zu einem bedrohlichen Fauchen, das wie dumpfes Gewittergrollen durch die Senke dröhnte und sie und die Hunde erschaudern ließ. Fast glaubte sie den säuerlichen Atem der Bestie zu spüren. Er stapfte ein paar Schritte in ihre Richtung, hielt unerwartet inne und schien es sich anders zu überlegen. Dann wagte er noch einmal einen Scheinangriff, und sie hatte bereits den Revolver aus der Tasche gezogen, als er erneut abbrach und wohl keine Lust verspürte, den beschwerlichen Weg durch den Tiefschnee auf sich zu nehmen. Mit einem letzten Fauchen, das mehr wie ein Fluch klang, überquerte er den gefrorenen Fluss und verschwand zwischen den Bäumen am anderen Ufer. Anscheinend hatte er gerade gefressen, oder es gab anderswo lohnendere Beute für ihn.
Clarissa wartete eine Weile, bis sie sicher sein konnte, dass der Grizzly auch tatsächlich verschwunden war, und steckte den Revolver zurück.
»Schon gut, Emmett!«, beruhigte sie ihren
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