Die Nacht der Wölfe
Leithund. »Er ist weg. Ihr habt nichts mehr zu befürchten.« Sie wandte sich an die beiden jüngsten Hunde, die hinter Emmett im Gespann liefen. »Charly! Benny! Keine Angst, der Grizzly kommt nicht zurück! Der ist froh, wenn er schnell wieder in seine Höhle kommt.«
Allmählich beruhigten sich die Huskys. Sie ging noch einmal zu ihnen, kraulte Emmett zwischen den Ohren, wie sie es immer tat, wenn sie sich bei ihm bedanken oder ihm was Gutes tun wollte, und liebkoste auch die anderen Hunde, besonders den jungen Benny, der zwar vor Kraft strotzte, aber etwas ängstlich war, wenn er das einer Lady wie Bonnie auch niemals zeigen würde. »So ein Grizzly treibt selbst erwachsene Männer in die Flucht«, tröstete sie ihn. »Du hättest Alex sehen sollen, als wir letztes Jahr einem solchen Burschen in die Quere kamen. So schnell hab ich ihn noch nie laufen sehen.«
Das war zwar gelogen, weil man immer den Kürzeren zog, wenn man glaubte, schneller als ein Bär rennen zu können, und sich Alex damals eher wie ein gemeiner Dieb davongeschlichen hatte, hörte sich aber gut an und richtete Benny wieder auf. Sie streichelte ihm den Hals und kehrte zum Schlitten zurück, kletterte auf das Trittbrett und zog den Anker aus dem Schnee.
»Vorwärts! Wir dürfen keine Zeit verlieren!«, trieb Clarissa die Huskys an. Sie schloss im Fahren ihre Anoraktasche und lenkte das Gespann in die eigene Spur auf dem Trail zurück. »Ich weiß, dass ihr gestern Nacht viel gelaufen seid und wahrscheinlich eine Menge mitgemacht habt, aber wenn Alex verletzt irgendwo da draußen liegt und ihn die Männer des Aufgebots nicht aufgespürt haben, müssen wir ihn finden. Habt ihr gehört? Wir müssen Alex finden, und wenn wir drei Tage und drei Nächte am Stück durch die Wildnis fahren müssen. Ich liebe ihn und will ihn nicht verlieren. Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen!« Sie seufzte leise. »Ach, wenn ihr doch sprechen könntet!«
Zumindest wussten sie, in welche Richtung sie laufen mussten, denn sie folgten auch weiterhin den Spuren, die sie selbst im Schnee hinterlassen hatten. Bei Emmett hatte sie sogar den Eindruck, dass er genau zu wissen schien, was Clarissa vorhatte, und wo sie nach Alex suchen musste, obwohl er in der letzten Nacht gar nicht dabei gewesen war. Ein angeborener Instinkt, wie er allen guten Leithunden eigen war. Immer wieder hatten es Musher ihren Huskys zu verdanken, dass sie selbst in dichtem Schneetreiben den Trail wiederfanden, auch wenn er kaum von seiner Umgebung zu unterscheiden war.
Am Waldrand entlang führte der Trail in die Ausläufer der White Mountains hinauf. Der Weg wurde steiler und kurvenreicher, und die Herausforderungen an die Huskys wuchsen. Emmett zeigte sich unbeeindruckt von der Steigung und ließ seine Muskeln spielen, riss selbst Chilco mit, der langsam in die Jahre kam und nicht mehr ganz die Form seiner jungen Jahre erreichte. Clarissa stand auf dem Trittbrett und hielt sich mit beiden Händen fest, sprang einige Male herunter und half den Hunden auf einer besonders steilen Steigung. Dabei hatte sie den Eindruck, sich einen bösen Blick von Emmett einzufangen, der unbedingt beweisen wollte, dass er auch ohne menschliche Hilfe zurechtkam. Mit seiner ganzen Kraft legte er sich ins Geschirr und zog an den Leinen.
Sie hatte gerade den steilen Anstieg hinter sich gebracht und fuhren durch einen lichten Wald in ein Tal hinab, als der Schuss fiel. Als mehrfaches Echo hallte er bedrohlich zwischen den Felsen wider. Clarissa erschrak und geriet beinahe aus dem Gleichgewicht; im letzten Augenblick hielt sie sich an den Haltegriffen fest. Die Hunde kamen aus dem Rhythmus und verhedderten sich in den Leinen, sogar Emmett, den sonst selten etwas aus der Ruhe brachte. »Whoaa! Whoaa!«, rief Clarissa und sprang vom Trittbrett.
10
Ungläubig starrte sie ins Tal hinab. Es war niemand zu sehen, nur das Echo des Schusses rollte noch immer den Hang hinauf und hing bedrohlich lange in der kalten Luft. Clarissa war genauso verwirrt wie die Hunde und blieb unschlüssig stehen. Als ein zweiter Schuss fiel, weiter entfernt als der erste, und den trügerischen Frieden der Wildnis störte, zuckte sie erneut zusammen.
Sie ging erschrocken in die Knie, wusste noch immer nicht, wem die Schüsse galten und was sie zu bedeuten hatten, nestelte an ihrer Anoraktasche und berührte den Revolver. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Wie auf dem Präsentierteller standen sie und die Huskys auf dem Trail, ein leichtes Ziel
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