Die Nacht der Wölfe
Ma’am. Mein aufrichtiges Beileid! Der Indianer hat Ihnen sicher schon gesagt, dass er in einer Felsspalte liegt und wir ihn unmöglich bergen konnten.«
»Sie haben doch nie ernsthaft nach meinem Mann gesucht, Marshal.« Sie konnte den Mann nicht leiden, vor allem wegen seiner Arroganz, die er selbst bei diesem Gespräch an den Tag legte. »Hätte sich der Indianer nicht Ihren Befehlen widersetzt, wüsste ich jetzt noch nicht, was mit ihm geschehen ist.«
Der Marshal unterdrückte nur mühsam seinen Ärger. »Als United States Deputy Marshal war es vornehmlich meine Pflicht, Frank Whittler und seine Komplizen zu verfolgen. Ich wusste natürlich, dass der Indianer nach Ihrem Mann suchen würde, und habe es stillschweigend geduldet. Ich bin schließlich kein Unmensch. Sie können mir wirklich glauben, es tut uns allen leid, dass Ihr Mann von Whittler und seinen Männern erschossen wurde, und Sie können versichert sein, dass wir alles daran setzen werden, die Täter dingfest zu machen.«
Er sprach so gestelzt wie auf einer Pressekonferenz in Anchorage, berührte sogar sein Abzeichen und gelobte: »So wahr mir Gott helfe!«
»Sie haben Whittler nicht erwischt?«
»Noch nicht«, erwiderte der Marshal sichtlich gereizt. »Uns kam ein weiterer Blizzard dazwischen. Sie wissen doch sicher selbst, wie unberechenbar das Wetter am Yukon ist. Nach dem Sturm gab es überhaupt keine Spuren mehr, und um uns aufzuteilen und in mehreren Richtungen nach ihm und Whipple zu suchen, waren wir nicht genug Männer. Wir mussten umkehren.«
»Warum stellen Sie nicht ein neues Aufgebot zusammen?«
Auf der Stirn des Marshals erschienen zwei steile Falten. Man sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, die Fassung zu bewahren. »Ich will nicht unhöflich sein, Ma’am, aber ich glaube kaum, dass Sie das etwas angeht. Als eine Lady, die schon seit einigen Jahren im Hohen Norden lebt, sollten Sie allerdings wissen, dass er nördlich des Yukon kaum eine Möglichkeit hat, in eine zivilisierte Gegend vorzustoßen, und dass wir deshalb nur zu warten brauchen, bis er wieder auftaucht. Ich nehme an, er verkriecht sich in irgendeinem Indianerdorf, und sobald er die Luft für rein hält, kehrt er entweder in diese Gegend zurück, oder er flieht über die kanadische Grenze nach Dawson City. Und um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen: Ja, wir haben die kanadischen Behörden selbstverständlich informiert, und die Mounties stehen bereit, falls er nach Dawson kommt.« Er schnaufte. »Möchten Sie sonst noch etwas wissen, Ma’am?«
Clarissa erkannte, dass sie zu weit gegangen war. »Tut mir leid, Marshal. Ich bezweifle nicht, dass Sie alles tun werden, um Frank Whittler und seinen Komplizen zu fangen. Es ist nur … Er ist ein sehr gefährlicher Mann!«
»Das wissen wir, Ma’am, das wissen wir.«
Sie verließ den Saloon und war froh, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Auf dem Gehsteig blieb sie einige Zeit stehen und kühlte ihr Gesicht in dem auffrischenden Wind. Sie ärgerte sich über das überflüssige Wortgefecht mit dem Marshal und war wütend auf ihn, weil er Frank Whittler nicht gefasst hatte. Sie hatte Angst vor dem Mann, auch wenn sie wusste, dass er sich in der Wildnis nicht auskannte und tatsächlich darauf angewiesen war, in einem Indianerdorf zu überwintern. Ein besessener Mann wie er blieb immer gefährlich und hatte nach dem Bankraub auch genug Geld, um andere Leute für sich arbeiten zu lassen. Es gab sicher genug Indianer und Fallensteller, die für einen Beutel Gold bereit waren, ihn und seinen Kumpan an einen sicheren Ort zu führen.
Und sobald er herausgefunden hatte, dass sie in der Nähe von Fairbanks wohnte, würde er zurückkommen und versuchen sie zu töten. Seitdem sie ihn zurückgewiesen hatte, war er besessen von der Idee, sie zu bestrafen, und nachdem er ohnehin schon mehr als einen Mord auf dem Gewissen hatte, hielt ihn auch das bisschen Gewissen, das er noch besaß, nicht davor zurück. Mehrere Jahre hatte er schon damit verbracht, sie zu verfolgen oder durch seine Spione ausfindig zu machen, und er würde er alles dafür tun, seine Rechnung mit ihr endlich zu begleichen und seine Rache persönlich auszukosten. Die Kunde von Alex’ Tod würde sich wie ein Lauffeuer im Busch verbreiten, und bestimmt kam er ihr bald erneut auf die Spur. Davon würden ihn auch der US Marshal und sein Aufgebot nicht abhalten.
Sie überquerte die Straße und sah den Bankbesitzer auf den Gehsteig treten. »Ah, Mister Flemming!«,
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