Die Nacht der Wölfe
versackt, dass sie sich erst an die Oberfläche graben mussten. »Tut mir leid!«, rief Clarissa. Der Sturz hatte sie aus ihrer Trauer gerissen und ließ sie wieder klar denken. »Tut mir leid, das wollte ich nicht!« Sie stapfte zu den Hunden, nahm jeden Einzelnen in den Arm und entschuldigte sich bei ihm. »Und jetzt fahren wir auf den Trail zurück!«, ging sie gleich zur Tagesordnung über, wohl wissend, dass sie ihre Vormachtstellung bei den Huskys nicht gefährden durfte. Sie war die Anführerin, ihr mussten sie sich unterordnen, wenn sie erfolgreich sein wollten.
Nachdem sie aus dem Tiefschnee heraus waren, fuhren sie unterhalb des Hügelkamms entlang, bis der Trail nach unten führte und sie kaum noch Schwierigkeiten hatten, wieder in die Spur zu kommen. Auf ebener Strecke stieg sie aufs Trittbrett und klopfte während des Fahrens den Schnee von ihrer Kleidung. Im gemäßigten Tempo fuhr sie nach Hause, den Kopf immer noch voll quälender Gedanken, aber nicht mehr bereit, sich von ihrer Trauer in die Knie zwingen zu lassen. Beinahe bewundernd dachte sie an ihre Freundin Dolly, deren frisch getrauter Ehemann von einem Banditen in Skaguay ermordet worden war und die trotz ihrer verzweifelten Trauer und ihres Schmerzes noch stärker und selbstbewusster geworden war, obwohl sie genau wusste, dass sie nie wieder einen Mann wie ihren Luther kennenlernen würde.
Wie sie von einigen Fallenstellern wusste, die aus dem Yukon-Territorium gekommen waren und bei ihr und Alex übernachtet hatten, war Dolly noch immer in Dawson City. Dort war der Goldrausch zwar schon vorüber, aber die Stadt übte eine eigenartige Anziehungskraft auf viele Menschen aus, und Dolly konnte nicht klagen. Sie hatte das Roadhouse von Aunt Millie übernommen, einer älteren Dame, die vor einem Jahr gestorben war und sich einen Namen als hervorragende Köchin gemacht hatte, vielleicht auch, weil noch viele Engländer am Yukon nach Gold gruben und ihre Pies mochten.
Wie sie von früheren Enttäuschungen noch wusste, vor allem dem Tod ihrer Eltern und Alex’ plötzlichem Verschwinden vor drei Jahren, half schwere Arbeit am besten gegen Trauer und Schmerz. Sie versorgte die Hunde, putzte den Herd und säuberte den Ofen, wusch sogar den Vorhang, der vor ihrem Schlafbereich hing, und reparierte kleine Schäden, nur um Ablenkung zu haben. Als würde sie von einer Maschine gesteuert, hastete sie von einer Arbeit zur nächsten. Erst als es draußen längst wieder dunkel war und der Mond und die Sterne am Himmel erschienen, hielt sie inne. Sie stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch, starrte auf die Holzplatte, die sie am vergangenen Abend mit einer Bürste geschrubbt hatte, und war plötzlich so müde, dass sie es gerade noch zum Bett schaffte und in ihren Kleidern auf die Decken sank.
Während der nächsten Tage durchlief sie ein Wechselbad der Gefühle. Mal wurde sie von Trauer überwältigt und weinte hemmungslos, als sie einige Kleidungsstücke ihres Mannes in die Hände bekam und ihr bewusst wurde, dass sie die Unterwäsche nicht mehr zu waschen brauchte. Sue schluchzte wie ein kleines Kind, als sie Emmett umarmte, und erkannte, dass sie niemals mehr gemeinsam mit Alex unterwegs sein würde. Beim Holzhacken und anderen eintönigen Arbeiten dachte sie gar nichts, sondern konzentrierte sich lediglich darauf, die Holzscheite zu treffen, oder sang freudlos vor sich hin, und alle paar Stunden glaubte sie plötzlich wieder an ein Wunder. Dann sagte sie sich, dass Alex gar nicht tot war und schon bald zu ihr zurückkehren würde. Eine vergebliche Hoffnung, wie sie gleich darauf erkannte, und doch trat sie jeden Abend vor dem Schlafengehen vor ihre Hütte. Sie blickte zum Himmel empor und betete für dieses Wunder, sah in dem flackernden Nordlicht ein Zeichen dafür, dass Gott sie nicht vergessen hatte, und wartete gleichzeitig auf das vertraute Heulen des Geisterwolfes, der sie mit ihrem Mann vereinen würde. Und doch war jeder einzelne Tag schwer wie Blei.
Mit den Hunden trainierte sie jeden Tag. Sie legte weite Entfernungen zurück, erklomm steile Berghänge, überquerte weite Eisfelder und rauschte durch dunkle Wälder. Sie glaubte fest daran, dass auch Alex ihre Teilnahme am Alaska Frontier Race unterstützte. Wenn sie sich ganz auf dieses Rennen konzentrierte und täglich mit ihren Huskys trainierte, würde es ihr leichter fallen, über den Verlust ihres Mannes hinwegzukommen, so hoffte sie wenigstens. Ein Sieg oder einer der vorderen
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