Die Nacht der Wölfe
Plätze würde ihn bestimmt fröhlich stimmen. »Giddy-up! Giddy-up!«, trieb sie die Hunde mit seinem Anfeuerungsruf an, fest davon überzeugt, dass er ihr bei ihren Trainingsläufen zusehen und dabei lächeln würde. »Giddy-up! Giddy-up! Lauft, so hätte euch Alex gern gesehen!«
Eine knappe Woche später hatte sie genug von dem täglichen Einerlei. So viel Arbeit, dass sie sich ständig ablenken könnte, und so viele Möglichkeiten, den Schmerz und die Trauer zu verdrängen, gab es nicht. Sie hatte plötzlich das Gefühl, irgendetwas anderes tun müssen, etwas Nützliches, das ihr tatsächlich weiterhalf und sie nicht nur betäubte oder in einen Dämmerzustand versetzte. Sie wollte den Ort sehen, an dem Alex gestorben war. Wenn sie ihn schon nicht auf anständige Weise begraben konnte, wollte sie wenigstens vor dem Felsspalt ein Holzkreuz in die Erde rammen oder seinen Namen in den Fels meißeln. Sie wollte sich so von ihm verabschieden, wie er es verdiente, und seine Nähe spüren, auch wenn seine Seele längst entwichen war.
Mit einem kleinen Lederbeutel, in dem sie die Goldnuggets aufbewahrten, die Alex von ein paar Goldsuchern für einige seiner kostbarsten Felle bekommen hatte, machte sich Clarissa auf den Weg nach Fairbanks. Sie würde ihr Gold auf die Bank bringen und nur wenige Nuggets behalten, um Einkäufe zu tätigen und den indianischen Fährtensucher zu bezahlen, der sie zu der Felsspalte bringen sollte. Auch wenn sie in die Stadt fuhr, trug sie ihre Winterkleidung, selbst wenn sie darin nur wenig attraktiv aussah und von einigen Frauen schief angesehen wurde. Ihr Aussehen kümmerte sie in ihrer Trauer wenig, und was andere Frauen über sie dachten, war ihr ziemlich egal.
Die Reise über den zugefrorenen Fluss verlief ruhig und ohne Zwischenfälle. Während der Fahrt musste sie ein paar Mal vom Trittbrett steigen, um eine Uferböschung zu erklimmen oder eine besonders starke Erschütterung zu vermeiden. Der Morgen war kalt und klar, und über ihr flackerte das Nordlicht in milden Farben, ein Trost, wenn man daran glaubte, dass es von den Seelen der Verstorbenen kam. Vielleicht sollte sie zu Dolly nach Dawson ziehen, ging es ihr durch den Kopf, als sie über den breiteren Chena River der Stadt entgegenfuhr. So wie vor drei Jahren, als sie nach Alex gesucht hatte.
Das Roadhouse lag weit genug von der Stadt entfernt, und die Arbeit hatte ihr Spaß gemacht. Mit einer Freundin, die ein ähnliches Schicksal erlebt hatte, war es vielleicht leichter, das Leben zu meistern.
In Fairbanks waren schon wieder zwei Häuser an der Hauptstraße fertig geworden, und sie hatte das Gefühl, dass sich die Einwohnerzahl verdoppelt hatte, so viele Menschen tummelten sich inzwischen in der Stadt. Weniger auf den teilweise überdachten Gehsteigen der Hauptstraße als in den Gassen der unzähligen Zelte, die sich zu beiden Seiten der Straße ausbreiteten. Zwei Frauen, die vor einem der Zelte standen und sich unterhielten, blickten ihr neugierig nach. Eine der beiden hatte sie wohl erkannt und zeigte sogar mit dem ausgestreckten Finger auf sie: Eine Frau auf einem Hundeschlitten war auch in einer nördlich gelegenen Boomtown wie Fairbanks etwas Besonderes.
Sie bremste vor Barnettes Handelsposten und sicherte den Schlitten. Wie nach jeder Fahrt bedankte sie sich bei jedem einzelnen Husky, besonders aber bei Emmett, der seine Vormachtstellung sichtlich genoss. Er wusste aber auch, was von ihm verlangt wurde, und rief seine Artgenossen durch lautes Bellen zur Ordnung, als sie zu stark an ihren Leinen zerrten. »So ist es brav, Emmett«, bedankte sie sich bei ihm, »auf dich kann ich mich verlassen, was?«
Sie vermutete den Fährtensucher im Handelsposten, wo er manchmal aushalf, wenn er nicht gebraucht wurde, sah aber den Schlitten des US Marshals vor dem Saloon gegenüber stehen und überquerte die Straße. Inzwischen war der Tag angebrochen, und pinkfarbenes Zwielicht spiegelte sich im Schnee.
Im Saloon blieb sie stehen, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel in dem langgestreckten Raum gewöhnt hatten und sie Marshal Novak und seine beiden Gehilfen an einem der runden Tische sitzen sah. Alle drei tranken Bier, und der Marshal hatte sich in den Rauch einer kurzstieligen Pfeife gehüllt.
Als sie ihre Mütze abnahm und er sie erkannte, stand er auf und begrüßte sie erstaunt. Für Frauen war es zwar nicht verboten, aber auch nicht üblich, einen Saloon zu betreten. »Ich habe gehört, was mit Ihrem Mann passiert ist,
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